Der Papst der Barmherzigkeit: Was die Kirche von Johannes Paul II. lernen kann

Die Bilanz des Pontifikats von Johannes Paul II. ist zwiespältig. Versäumnisse und dogmatische Verhärtungen haben den Dialog in der Kirche erschwert. Aber eins hat der Papst vorgelebt: dass Glaube nicht ohne Mitleid möglich ist – und ohne Verzeihen.

Jan-Heiner Tück 5 Kommentare
Drucken
Es fehlt etwas, wenn Barmherzigkeit fehlt. Vielleicht das Entscheidende: Johannes Paul II. im Jahr 1981 bei einer Messe in Manila.

Es fehlt etwas, wenn Barmherzigkeit fehlt. Vielleicht das Entscheidende: Johannes Paul II. im Jahr 1981 bei einer Messe in Manila.

Imago

Johannes Paul II. wäre in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden. Fünfzehn Jahre ist es her, dass er gestorben ist, nach einem Pontifikat, der siebenundzwanzig Jahre gedauert hat. Unvergessen ist, dass Johannes Paul II. am Ende seines Lebens zu einer Ikone des Gebrechens geworden ist, die auch Agnostiker menschlich berührt hat. Seine Hinfälligkeit, sein Nicht-mehr-sprechen-Können hat er öffentlich gezeigt, als er am Ostersonntag 2005 stumm den Segen urbi et orbi erteilte.

Für einen Augenblick hat er die gesellschaftlichen Imperative, jung, schön und erfolgreich zu sein, unterbrochen. Mehr als in seinen Predigten ist er im Leiden und Verstummen zu einem Zeugen der Transzendenz geworden. Der Tod, das hat er in seiner Person verkörpert, ist nicht der letzte Horizont. Es gibt etwas darüber hinaus. Das Kreuz, an das er sich geklammert hat, war ihm das Zeichen dafür.

Die Licht- und Schattenseiten des Pontifikats von Johannes Paul II. (1978–2005) sind ausführlich gewürdigt worden. Seine Unterstützung für die Demokratiebewegung in Polen hat den Zusammenbruch des Sowjetsystems beschleunigt. Im Gespräch mit dem Judentum und anderen Religionen war er der akademischen Theologie voraus. Sein Gespür für symbolische Gesten, sein ungewöhnliches Charisma, sein unermüdlicher Einsatz für die Verbreitung des Evangeliums wurden herausgestrichen.

Moral des Mitleids

Aber auch die Ambivalenzen wurden vermerkt. Neben einer fragwürdigen Politik der Bischofsernennungen, die manche Ortskirche tief gespalten hat, sind die Stärkung des römischen Zentralismus sowie die harsche Ablehnung liberaler und befreiungstheologischer Ansätze genannt worden. Auch hat der offenkundige Unwille des polnischen Papstes, die Nachrichten über sexuellen Missbrauch durch Kleriker zur Kenntnis zu nehmen, eine Vertuschungspraxis gefördert, deren Abgründe in den letzten Jahren offenbar geworden sind.

Bei allen Bilanzen ist der theologische Hintergrund seines Denkens kaum näher ausgeleuchtet worden. Im Zentrum seiner Theologie steht der Begriff der Barmherzigkeit, der misericordia, der in der scholastischen Theologie in den Hintergrund gerückt wurde, obwohl er in der Heiligen Schrift eine prominente Rolle spielt.

Barmherzigkeit und Mitleid mögen in der Alltagssprache heute einen altmodischen Klang haben, auch stehen sie schon länger unter Ideologieverdacht. Die Moral des Mitleids sei bloss ein Trick der Schwachen, die Starken zu domestizieren, meinte Nietzsche, der den Seligpreisungen der Bergpredigt entgegenhielt: «Gelobt sei, was hart macht.»

Marx hingegen wandte gegen Praktiken sozialer Mildtätigkeit ein, sie stabilisierten das System der Herrschenden nur. Auch heute steht die mitleidlose Durchsetzung der eigenen Interessen oft höher im Kurs als Compassion oder Barmherzigkeit. Advokaten des Mitleids werden mitleidig belächelt oder gleich unter Paternalismusverdacht gestellt; sie wollten, heisst es, in der Geste der herablassenden Zuwendung nur ihre eigene Großzügigkeit goutieren.

Abgründe menschlicher Bosheit

Johannes Paul II. waren diese Vorbehalte bekannt. Aber der kaltschnäuzige Zynismus, den er in den Ideologien des 20. Jahrhunderts kennengelernt hatte, erschien ihm ebenso therapiebedürftig wie die verbreitete Apathie gegenüber dem Leiden anderer. Seine zweite Enzyklika «Dives in misericordia» von 1980 widmete er dem Thema des bedrohten Menschen und der Kraft des Erbarmens.

Er sah in der Barmherzigkeit die Antwort Gottes auf das Drama der Geschichte und die Abgründe menschlicher Bosheit. Diese theologische Weichenstellung ist eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Karol Wojtyla in der Nähe von Auschwitz aufgewachsen ist, dass er als Student im Untergrund, als junger Priester und Bischof in Krakau die brutale Gewalt, aber auch das feingesponnene Netz der Lüge der politischen Diktaturen miterlebt hat.

Die Bestialität des Bösen hat Wojtyla nicht zu einer Theologie der Anklage oder gar Gottesbeschuldigung veranlasst. Vielmehr hat er zu einem theologischen Optimismus gefunden, der seine Kraft aus dem Geheimnis des Kreuzes bezog.

Unrecht beim Namen nennen

Wojtyla war der Überzeugung, dass in Jesus Christus die Inkarnation der göttlichen Barmherzigkeit nahegekommen ist. Die Rückfragen, die aus dem unschuldigen Leid erwachsen, seien kein Anlass zur Rebellion, da Gott sich durch die Passion seines Sohnes gewissermassen selbst gerechtfertigt habe. Auf Golgatha sei die Macht des Bösen grundsätzlich gebrochen und die rettende Empathie Gottes mit den Opfern der Geschichte deutlich geworden.

Die Zäsur-Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben den polnischen Papst nicht daran gehindert, an die göttliche Vorsehung zu glauben, von der er meinte, sie allein habe der Explosion des Bösen eine Grenze gezogen. Das hat er in seinem letzten Buch «Identität und Erinnerung» noch einmal unterstrichen.

Zugleich hat sich Johannes Paul II. geweigert, die Akteure des Bösen aus dem Horizont der göttlichen Barmherzigkeit herauszunehmen. Das ist ebenfalls erstaunlich und für die Opfer von Unrecht provokant. Aber der Heilsoptimismus Wojtylas ist nicht mit einer Theologie der billigen Gnade zu verwechseln, die das Unrecht wegwischt, ohne es beim Namen zu nennen und aufzuarbeiten. Barmherzigkeit wird von ihm als andere Seite der Gerechtigkeit verstanden.

Alle können gerettet werden

Die Rede von Gott als dem gerechten Richter, der Lohn und Strafe zuteilt, sei biblisch gut begründet, aber sie werde der Situation des Menschen oft nicht gerecht. Sie drohe in neue Ungerechtigkeit umzuschlagen, wenn übersehen werde, dass der Täter mehr ist als die Summe seiner Untaten. Daher müsse die Aufrichtung der Gerechtigkeit im Licht der Barmherzigkeit erfolgen, andernfalls könne der Abgrund des Vergangenen nicht heilend durchschritten werden.

Mit der kühnen Hoffnung, dass durch das göttliche Erbarmen am Ende alle gerettet werden könnten, hat Johannes Paul II., ohne dass dies gross registriert wurde, die jahrhundertealte Tradition des Heilspartikularismus leise korrigiert. Diese ging mit Augustinus, den Jansenisten, aber auch mit Luther und Calvin davon aus, dass ein grosser Teil der Menschheit definitiv verloren geht und nur wenige gerettet werden.

Im Gesprächsband «Die Schwelle der Hoffnung überschreiten» hat Wojtyla offengelegt, dass seine heilsuniversalistische Theologie auch durch den Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar inspiriert wurde, den er 1988 zum Kardinal ernannt hat. Dieser hat in den 1980er Jahren einen heftigen Disput über die Hölle geführt. Seine Gegner, die mit Verweis auf entsprechende Bibelstellen die These vertraten, dass die Hölle dicht bevölkert sei, hat Balthasar scharfzüngig «Infernalisten» genannt.

Hoffentlich ist die Hölle leer

Natürlich hat Johannes Paul II. die Realität der Hölle nicht geleugnet, das hätte ihm den Ruf eines häretischen Papstes eingetragen. Allerdings hat er die Hoffnung angedeutet, dass diese aufgrund des göttlichen Erbarmens leer sein könnte. Wenn der Richter zugleich der barmherzige Anwalt der Verlorenen sei, sei es nicht ausgeschlossen, dass ausnahmslos alle im Haus des Vaters ankommen.

Mit dieser Neuinterpretation des Gerichts ist eine Abkehr von der Vorstellung eines aktiv strafenden Gottes verbunden, die in der Tat hinter den Glauben an einen barmherzigen Gott zurückfällt. Hölle, das wäre, wenn überhaupt, der selbstgewählte Gottesverlust des Menschen, der sich dem Gnadenangebot Gottes verschliesst, nicht aber ein postmortales KZ mit infernalischen Strafen.

Verschleiert eine solche Theologie der Barmherzigkeit aber nicht allzu leichtfertig die abgründigen Differenzen zwischen Henkern und Opfern? Johannes Paul II. war entschieden gegen das Vergessen als Strategie der Vergangenheitsbewältigung. Er hat aber für einen Weg des Verzeihens geworben, der sich der Wahrheit des Vergangenen stellt. Es sei nicht leicht, hat er einmal notiert, «das Böse zu vergessen, das man unmittelbar erfahren hat. Man kann es nur verzeihen. Und was bedeutet verzeihen, wenn nicht, sich auf das Gute zu berufen, das grösser ist als jegliches Böse? Diese Gute hat schliesslich sein Fundament allein in Gott.»

Verzeihen, unter allen Umständen

Diese Aufzeichnung hat die Unfähigkeit zu verzeihen vielleicht zu wenig im Blick. Aber sie ist für den Papst selbst nicht abstrakt geblieben. Nachdem er 1981 einem tödlichen Anschlag nur knapp entronnen war, hat er seinen Attentäter später in der Haft aufgesucht und ihm verziehen. Dadurch hat er deutlich gemacht: Kein Mensch sollte auf seine Vergangenheit festgelegt werden, sondern den Freiheitsspielraum erhalten, sich von seiner Tat zu distanzieren, sie zu bereuen und neu anzufangen.

Die Förderung einer Kultur der Barmherzigkeit war Johannes Paul II. so wichtig, dass er sie in das kollektive Gedächtnis der Kirche eingeschrieben hat. Gegen anfängliche Bedenken des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, hat er den Sonntag nach Ostern zum «Sonntag der Barmherzigkeit» erklärt.

Eine Woche nachdem er auf der Loggia des Petersplatzes den stummen Segen erteilt hatte, ist der gebrechliche Pontifex genau an diesem Datum gestorben, als wolle er der Welt das Vermächtnis hinterlassen, dass etwas fehlt, wenn Barmherzigkeit fehlt. Dieses Vermächtnis könnte das Reizklima des Rechthabenmüssens in Kirche und Gesellschaft heilsam unterbrechen und auch diejenigen gnädig stimmen, die mit den Schattenseiten des Pontifikats bis heute hadern. Zumindest für einen Augenblick.

Jan-Heiner Tück lehrt als Professor am Institut für Systematische Theologie der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien.

5 Kommentare
Franz Meier

Das höre ich jetzt zum ersten Mal, dass Wojtyla etwas mit "Barmherzigkeit" zu tun gehabt haben soll. Mir erschien er immer als Papst der Erbarmungslosigkeit - jedenfalls was sein innerkirchliches Verhalten betraf. So liess er beim Besuch in Nicaragua Ernesto Cardenal vor der Weltpresse vor sich knien anstatt ihn aufzuheben und erhob gar mahnend den Zeigefinger über dem Knienden. 

Erich Häring

Ein positives Zeichen zu dem Kommentar von Herrn Tück, dessen Beiträge als Theologe einmal etwas wagemutiger, dann wiederum mit der gängigen kirchlichen Lehre übereinstimmend zu sein scheinen, war es, dass Karol Wojtyla noch als Bischof zu den Promotoren des Gesprächs nach dem 2. Weltkrieg zwischen dem Episkopat der beiden Länder Polen und Deutschland gehörte. Innerkirchlich verengte sich sein Handeln immer mehr zur unverrückbaren dogmatischen Festlegungen, die ihn und den Präfekten der Glaubenskommission zu Hardlinern werden liessen. Hans Küng, die Theologie der Befreiung, der frühere Erzbischof von Wien, Kardinal König, die Liste könnte fortgeführt werden, haben damals schon Gläubige aus der Kirche getrieben. Die Bischofsernennungen in Österreich, in Deutschland und der Schweiz, - Johannes Paul pflegte beim Frühstück solche Entscheide zu fällen, kommen für mich nahe an den Zynismus heran, von denen Herr Tück über moderne Philosophien schreibt. Die Folgen dieses Pontifikats, wie auch die seines  Nachfolgers spalten noch heute die Kirche: der Heilige als Vorbild gegen den Papst aus Argentinien, der weder richtig Theologie gelernt haben soll und dem zeitgenössischen Relativismus verfallen sein soll. Der Gastkommentar von Herrn überzeugt mich nicht.