Skip to content
BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 19, 2022

Jenseits religiöser Eindeutigkeit

Ambige Glaubensvorstellungen in historischen Überlieferungen des Alevitentums

  • Cem Kara EMAIL logo

Zusammenfassung

Vorliegende Abhandlung diskutiert die Frage ambiger Glaubensvorstellungen anhand historischer Überlieferungen im Alevitentum. Die Studie setzt einen produktionsästhetischen Fokus und eruiert die Motive und insbesondere die Intentionalität besagter Ambiguitäten. Hierfür zieht die Studie mit den Textsammlungen der sogenannten Buyruk-Tradition und der Poesie des safavidischen Schahs Ismail I. (1487–1524) zwei für Alevit:innen in Geschichte wie Gegenwart als konstitutiv geltende Quellen heran. Als thematisches Fallbeispiel werden Ideen zur zentralen alevitischen Heiligenfigur Imam Ali (600–661) besprochen. In beiden Quellenarten zeichnen sich mindestens drei deutlich voneinander unterscheidbare Ali-Vorstellungen ab, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Neben der Auffächerung der einzelnen Ebenen der Ali-Vorstellung führt die Studie verschiedene Deutungsansätze an, die diese ambigen Glaubensvorstellungen erklären könnten. Dabei steht die Frage der Intentionalität der Ambiguitäten im Fokus – ob und welche Intentionen die Autoren mit der Integration mehrdeutiger Ideen verfolgt haben können. Neben vielen Ansätzen wird die Idee, dass die Autoren mit verschiedenen Konzepten unterschiedliche Adressat:innen ansprechen wollten, ausführlicher diskutiert.

Abstract

This paper addresses the question of ambiguous ideas in historically transmitted texts of Alevi provenance. The study focuses on the production of ambiguities and attempts to explore the motives and, in particular, the intentionality of ambiguities. For this purpose, the study draws on writings of the so-called Buyruk tradition and the poetry of the Safavid Shah Ismail I (1487–1524) – two sources that are considered constitutive for Alevis historically and today. As a case study, the paper discusses ideas on the central Alevi saint Imam Ali (600–661). In both types of sources, at least three clearly distinguishable and even conflicting perceptions of Ali emerge. In addition to differentiating the individual levels of how Ali is perceived, the study offers various approaches to explain the ambiguous beliefs. The focus is on the question of the intentionality of ambiguities – whether and what intentions the authors might have in implementing them. Among various approaches, the idea that the authors intended to address different recipients with different concepts is discussed in more detail.

1 Einleitung

Einst traten zu einem Rabbiner zwei Gemeindemitglieder mit einem Streitfall heran. Nachdem der erste seinen Standpunkt vorgetragen hatte, warf der Rabbi einen Blick in den Talmud und beschied ihm, dass er recht habe. Dann trug der Zweite seine Sicht der Dinge vor. Wieder schaute der Rabbi im Talmud nach. Dann sagte er auch zum Zweiten, dass auch dieser recht habe. Die Frau des Rabbis, die das ganze Geschehen verfolgt hatte, erwiderte überrascht, wie es denn möglich sei, dass beide Standpunkte richtig seien und doch nur einer von beiden recht haben könne. Der Rabbi konsultierte zum dritten Mal den Talmud und sagte schließlich auch zu seiner Frau, dass auch sie recht habe.[1]

Das Dilemma des Rabbis scheint seinen Grund darin zu haben, dass der Talmud für den Streitfall mindestens zwei unterschiedliche Antworten gibt, die beide gleichermaßen ihre Berechtigung haben. Ähnlich wie der Rabbi im Talmud mehrdeutige Aussagen findet, fallen auch in religiösen Texten, die der alevitischen Tradition zugerechnet werden, Antworten auf zentrale Fragestellungen des Glaubens häufig nicht eindeutig, sondern mehrdeutig aus. Insbesondere in historischen Überlieferungen finden sich zahlreiche ambige Glaubensüberzeugungen, die nachfolgend auf Grundlage zweier für die alevitische Geschichte konstitutiver Quellen diskutiert werden. Als thematisches Beispiel werden religiöse Überzeugungen zum Namensgeber des Alevitentums, Imam Ali (600–661), herangezogen und die verschiedenen Zuschreibungen und ambigen Ali-Bilder in Texten alevitischer Provenienz aufgefächert. Darüber hinaus werden unterschiedliche Ansätze diskutiert, die besagte Ambiguitäten in den Texten zu erklären versuchen. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, ob und welche Intention die Autoren mit den Ambiguitäten verfolgt haben können.

2 Ambiguitäten zwischen Rezeption und Produktion

Der Begriff der Ambiguität hat in den letzten Jahren eine große Aufmerksamkeit erfahren und ist Gegenstand diverser Forschungen geworden.[2] Einen Anteil an dieser Entwicklung hatte der Islamwissenschaftler Thomas Bauer, der das Konzept der Ambiguität auf kulturelle Phänomene der islamischen Geschichte übertrug und somit wichtige Impulse für die religionswissenschaftliche Ambiguitätsforschung setzte. Bauer sieht in der Duldung von Ambiguitäten ein zentrales Moment der islamischen Geschichte bis in die Moderne hinein.[3] In seiner Studie schlägt er eine gut operationalisierbare Definition von kultureller Ambiguität vor:

Ein Phänomen kultureller Ambiguität liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder mindestens zwei konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen und Sinnzuweisungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskursen bezieht oder wenn gleichzeitig innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen ausschließende Geltung beanspruchen kann.[4]

Ambiguitäten zeichnen sich also erst dann ab, wenn es ein Spannungsverhältnis zwischen mindestens zwei Positionen gibt, die auf den ersten Blick nicht komplementär sind. Bereits der frühscholastische Theologe Petrus Abaelardus (1079–1142) schlug in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von diversa und adversa vor. Unter diversa versteht er unterschiedliche, aber miteinander vereinbare Ideen; unter adversa hingegen konfligierende Positionen, die in einem Widerspruch zueinander stehen.[5]

Während Bauers Studie einen Schwerpunkt auf den bewussten Umgang mit Ambiguitäten und somit auf die Rezeption ambiger Phänomene in der Geschichte des Islams setzt,[6] nimmt die vorliegende Studie die produktionsästhetische Dimension in den Blick. Es sollen folglich die Umstände rekonstruiert werden, unter welchen Bedingungen bzw. aus welchen Gründen die Ambiguitäten in den untersuchten Texten entstanden sind. Bereits Augustinus (354–430) stellte Mehrdeutigkeiten in der Bibel nicht nur auf einer Auslegungs-, sondern auch auf einer Produktionsebene fest.[7] Dabei können sie zum einen dem Umstand der Textgenese geschuldet sein. Besonders bei Textsammlungen wie der Bibel können Ambiguitäten mit unterschiedlichen historischen, kulturellen oder diskursiven Hintergründen der einzelnen Textbausteine und der Zusammenlegung dieser im Endtext erklärt werden.[8] Zum anderen können Ambiguitäten in der Entstehung von Texten auch strategisch und bewusst eingesetzt worden sein, wie sie Augustinus ebenfalls in der Bibel beobachtet wissen wollte.[9] Insbesondere in der Literatur ist ein solcher strategischer Einsatz von Ambiguitäten ein beliebtes und weithin bekanntes Stilmittel, mit dem die Autor:innen unterschiedliche kommunikative, rhetorische oder ästhetische Absichten und Funktionen verfolgen können.[10] Dabei ist die Unterscheidung von intendierter und unabsichtlicher Ambiguität mitunter nicht leicht – vor allem, wenn man die Textentstehung und Autorenintention aufgrund einer unzureichenden Quellenlage nur eingeschränkt rekonstruieren kann.[11] Hier können indes wiederkehrende und erkennbare Muster in den Ambiguitäten eine Intention und Strategie nahelegen. In vorliegender Studie werden demnach die Ambiguitäten in den analysierten Texten dahingehend untersucht, ob sie als Produkte historisch-diskursiv variierender Kontexte verstanden werden können, defizitär-unabsichtlicher Natur sind oder ob sie feststellbare Muster vorweisen, die auf eine strategische Verwendung hindeuten.

3 Ambiguitäten in alevitischen Quellen

Die empirische Grundlage für die Untersuchung sind historisch-schriftliche Überlieferungen, die der alevitischen Geistesgeschichte zugeordnet werden können. Lange Zeit herrschte jedoch in der Alevitentumsforschung die Vorstellung, dass das Alevitentum lediglich oral weitergegeben worden sei und als vermeintliche Volksreligion keine schriftliche Tradition habe. Diese pauschale und normative Verneinung eines schriftlichen Erbes wurde von der jüngeren Forschung überzeugend dekonstruiert. Zwar ist es richtig, dass die mündliche Weitergabe religiösen Wissens ein Primat gegenüber der verschriftlichten Tradition innehatte, dennoch gab und gibt es im Alevitentum eine reiche schriftliche Kultur.[12] Obgleich die Frage, wann eine bestimmte Quelle als alevitisch zu verstehen ist und welche Indikatoren eine solche Bestimmung nahelegen, nicht hinreichend beantwortet worden ist, können bestimmte Quellen in der Geschichte des Alevitentums aufgrund ihrer historischen und sozioreligiösen Bedeutung hervorgehoben werden.[13]

Hierbei stechen zwei Kategorien besonders hervor: Zum einen Texte der sogenannten Buyruk-Tradition, die wie eine Art religiöser Katechismus die Grundlagen der religiösen Weltanschauung des Alevitentums aufgreifen und historisch auf die frühsafavidische Zeit Mitte des 16. Jahrhunderts zurückgeführt werden können.[14] Zum anderen sind hier die nefes oder deyiş genannten religiös-poetischen Überlieferungen anzuführen, die wie kein anderes Medium in Geschichte und Gegenwart von Alevit:innen zur Vermittlung religiösen Wissens und zum Ausdruck religiöser Emotionen verwendet wurden. Innerhalb der poetischen Tradition böte sich eine Vielzahl von Dichtern und einiger weniger Dichterinnen an, aber kaum eine Figur scheint so zentral wie Schah Ismail I. (1487–1524), der erste Schah des Safaviden-Reiches, dem alevitische Gruppen eine religiöse, gar messianische Verehrung zuteil kommen ließen. Ismail war aber nicht nur eine herausragende Figur in der sozioreligiösen und -politischen Geschichte des Alevitentums, sondern prägte auch nachhaltig die Entwicklung der alevitischen Poesiegeschichte wie kaum ein Zweiter.[15] Die Wahl auf Buyruk-Texte und Ismails Poesie ergibt auch aus historischer Perspektive durchaus Sinn, da beide Texte als frühsafavidisches Erbe des 16. Jahrhunderts gelten und somit in zeitlich, geographisch und religiös-kulturell vergleichbaren Entstehungskontexten zu verorten sind.[16] Zugleich weisen beide Quellenarten -die Texte der Buyruk-Tradition und die Lyrikanthologie Schah Ismails – viele Ambiguitäten in ihrer Wiedergabe religiöser Ideen auf, weswegen sie sich auch für hiesige Fragestellung besonders eignen.

In diesen Texten findet sich eine große Bandbreite ambiger Glaubensüberzeugungen, die durchaus auch zentrale Aspekte der Glaubenslehre umfassen – unter anderem Jenseitsvorstellungen. In der Sekundärliteratur und auch in zeitgenössischen religiösen Selbstdarstellungen von alevitischen Akteur:innen und Organisationen heißt es beispielsweise nahezu einheitlich, dass Alevit:innen an die Reinkarnation glauben.[17] Mit Blick auf die historisch überlieferte Sinnstiftung in als alevitisch verstandenen Quellen zeichnet sich jedoch ein vielschichtiges und mehrdeutiges Bild ab: Neben dem vielbelegten Glauben an die Reinkarnation lassen sich außerdem Vorstellungen vom Jüngsten Gericht sowie Himmel und Hölle finden. In vielen Quellen stehen diese beiden konträren Überzeugungen quasi nebeneinander. Die Ambiguitäten hinsichtlich Jenseitsvorstellungen sind somit nicht nur ein textübergreifendes, sondern sehr häufig ein innertextuelles Phänomen.[18] Derartige Mehrdeutigkeiten innerhalb desselben Textes lassen sich auch bei Vorstellungen zur Ontologie[19] und insbesondere zur Heiligenverehrung beobachten, die im alevitischen Glauben eine zentrale Rolle einnimmt und bei keiner Person so ausgeprägt ist wie bei Imam Ali (600–661).[20] Die Verehrung von Imam Ali ist mindestens genauso zentral wie Jenseits- oder Seinsvorstellungen, handelt es sich doch nicht nur um den Namensgeber des Alevitentums, sondern auch um die alles überstrahlende Bezugsperson.[21] Trotz des Stellenwertes dieser Doktrin – oder vielleicht sogar gerade deswegen – wird es nicht möglich sein, ein eindeutiges Bild von Ali aus den hier zu besprechenden Quellen zu erhalten.

3.1 Ali im Islam

Die Bewertung Alis gilt weithin als eine der ausschlaggebenden Trennlinien der islamischen Geschichte. Während er in sunnitischen Rechtsschulen als vierter Kalif und treuer Gefolgsmann (ṣaḥābī) Muhammeds gilt, ist er für schiitische und weitere alidische Denominationen der einzig wahre Nachfolger Muhammeds. Unter diesen Denominationen wird besagter Ali unterschiedlich verehrt und erfährt entsprechend verschiedene Zuschreibungen. Während eine Gruppe in ihm primär die historische Figur sieht, dem sie die Nachfolge Muhammeds zusprechen, erklären weitere Ali zur ersten göttlichen Manifestation, zuweilen gar zu Gott selbst. Das hier vereinfachend dichotom gezeichnete Bild weist selbstredend viele Grauzonen in der islamischen Geschichte auf, umreißt aber das Spektrum verschiedener Zuschreibungen, die, wie angedeutet, in der Regel mit verschiedenen religiös-kulturellen Hintergründen erklärt werden können.[22]

Gruppen, die Ali in divinisierenden Kategorien beschreiben, werden weithin unter dem pejorativen Begriff Ghulāt subsummiert. Frei als „Übertreiber“ zu übersetzen – weil sie aus einer sunnitischen und auch zwölferschiitischen Perspektive heraus ihre Verehrung Alis vermeintlich übertrieben – gehen erste Spuren dieser Bewegung auf die frühislamische Zeit und insbesondere auf die irakische Stadt Kufa zurück.[23] Über bis heute nicht hinreichend ergründete Transferkanäle erfuhren viele dieser kufischen Ghulāt-Überzeugungen im 15. Jahrhundert eine Art revival und zeigten sich in diversen mystischen Bewegungen, die für die Genese des Alevitentums konstitutiv waren.[24] In diesen Auslegungen wird Ali zumeist als erste Manifestation der Göttlichkeit verstanden, zuweilen als Inkarnation Gottes selbst, und es ist eine deutliche Priorisierung Alis gegenüber Muhammed feststellbar. Dies steht sodann zwölferschiitischen Vorstellungen entgegen, die in Ali einen herausragenden Menschen der frühislamischen Geschichte sehen, primär jedoch einen Menschen, dem auch eine nachgeordnete Rolle gegenüber Muhammed als dessen Nachfolger zukommt.[25]

In dem Korpus an Quellen, die als alevitisch attribuiert werden können, finden sich im Grunde die verschiedenen Positionen allesamt wieder. Das ist nicht nur ein intertextueller Befund, sondern betrifft auch die Bandbreite an Aussagen innerhalb desselben Werkes bzw. von Werken desselben Autors – so auch in der Poesie Ismails I. und in Schriften der Buyruk-Tradition.

3.2 Ali-Ambiguitäten in Schah Ismails Poesie

Unter dem Pseudonym Ḫaṭāʾyī (der Fehlerhafte) hinterließ der erste Schah des Safaviden-Reiches Ismail I. viele religiöse Gedichte und sollte für nachfolgende alevitische Dichter ein zentraler Bezugspunkt werden. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass kaum ein Dichter so viele Nachahmer hatte wie besagter Ismail I. Denn unzählige Dichter übernahmen sein Pseudonym Ḫaṭāʾyī und schrieben vermutlich bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein Gedichte in seinem Namen, weswegen sie von der Forschung Pseudo-Ḫaṭāʾyī genannt werden.[26] Nachfolgend wird indes ein Fokus auf Gedichte gesetzt, die mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Feder des safavidischen Schahs selbst stammen und in einer neuen kritischen Edition des Literaturwissenschaftlers Muhsin Macit herausgegeben wurden.[27]

Kaum eine Person und kaum ein Thema werden in dieser Anthologie so häufig aufgegriffen wie Imam Ali und Alis Wesenheit. Dabei zeichnet Ismail ein durchaus vielschichtiges und ambiges Bild von Ali. Ein wichtiges Unterscheidungskriterium für die verschiedenen Ali-Vorstellungen ist Alis Beziehungsverhältnis zum Propheten Muhammed: Wird etwa klassisch-islamisch an Muhammeds Superiorität festgehalten, was eher für ein konformistisches Bild spräche, gelten Muhammed und Ali als gleichwertig oder kann man gar eine Bevorzugung Alis konstatieren?

In der Poesie Ismails findet sich zunächst ein historisches Ali-Bild. Es werden bekannte Geschichten rund um den historischen Ali poetisch nacherzählt, insbesondere Narrative zu seinem Heldenmut und seiner Gerechtigkeit in diversen Schlachten der frühislamischen Geschichte. Hier gilt Ali meist als der treueste und vor allem mutigste Gefolgsmann Muhammeds. Auf seinem Pferd düldül schwingt er mit seinem legendären Schwert zü’lfiḳār die Klinge gegen die Widersacher des Propheten.[28]

Auf einer zweiten Ebene erscheint Ali – gemeinsam mit Muhammed – als präexistente Entität in Form eines Lichtes. Muhammed und Ali werden als erste Schöpfung beschrieben, als das Licht Muhammed-Alis (Nūr-ı Muḥammed-ʿAlī), das allen anderen Schöpfungen ontologisch und chronologisch vorausgeht. In diese Schöpfungsmythologie werden Muhammed und Ali gleichermaßen inkludiert und als gleichwertig beschrieben, aus dem gleichen Licht und demselben Ursprung kommend verstanden.

Im Erschaffenen zwei Lichter Ruhm erlangten, Muhammed ist die Sonne, Ali der strahlende Mond.[29]

Die erste und zweite Ebene stellen insofern auch keinen offenen Widerspruch dar, da der historische Ali – wie auch der historische Muhammed – als weltliche Manifestationen dieses präexistenten Lichts gesehen werden.

Konfligierende Ideen zeichnen sich erst mit der nun zu thematisierenden dritten Ebene ab. Denn die dritte Ebene geht nochmals einen Schritt weiter und sieht in Ali die Manifestation des göttlichen Wesens. So heißt es etwa in einem Vers: „Der Schah ist die unendliche Manifestation des göttlichen Geheimnisses.“[30] Aus dem Kontext des Gedichts erschließt sich, dass mit Schah Ali gemeint ist, was auch einer seiner beliebtesten Beinamen ist. Oder noch deutlicher in einem anderen Gedicht: „Dein Wesen ist Gottes Manifestation, oh Ali.“[31] Daher hebt Ismail auf dieser Ebene – und das an vielen Stellen durchaus explizit – Ali über alle Heiligen (evliyā) und Propheten (enbiyā), inklusive Muhammed. Es gebe zwar viele Propheten und Heilige, aber Ali sei erhabener als alle von ihnen.[32] Dies widerspricht sodann der Gleichstellung von Muhammed und Ali entsprechend der zweiten Ebene.

So wird auf dieser dritten Ebene auch die Lichtmetapher angepasst und umgedeutet: Denn in einem anderen Gedicht heißt es, dass lediglich Muhammed aus dem göttlichen Licht, Ali indes aus dem göttlichen Geheimnis hervorging.[33] Dass Ali aus dem göttlichen Geheimnis hervorging, ist ein wiederkehrender Topos in vielen Gedichten Ismails. Auf diese Weise dringt Ali in die Sphären der absoluten Transzendenz ein, da mit dem Geheimnis weithin die absolute Essenz Gottes gemeint ist, die menschlichen Zugängen verborgen ist. Damit zusammenhängend zeichnet sich bei Ismail an mehreren Stellen eine Art negative Theologie in Bezug auf Alis Wesenheit ab; dass nämlich Alis Wesen im Grunde für die Menschen unbegreiflich bleibe und die Auffassungsgabe der Menschen übersteige.[34]

Zu greifen ist hingegen Alis Funktion und Wirken auf der Welt, die Ismail ebenfalls in vielen Gedichten expliziert und Ali unter anderem Macht über Naturereignisse zuschreibt: Die Tages- und Jahreszeiten wechselten auf Alis Geheiß, und er habe Macht über alle Seienden und Dinge auf der Welt.[35] Dabei belässt es Ismail nicht und schreibt Ali gar die Schöpfung der Lebewesen zu: „Menschen wie Geistern gabst Du aus Deiner Güte heraus das Leben, oh Ali.“[36] Zwar zeichnet sich hier eine Divinisierung Alis ab, dem mit dem Schöpfungsakt ein zentrales Moment der Göttlichkeit zugesprochen wird, allerdings ist es keine monophysische Gleichsetzung von Gott und Ali. Denn Ali vollzieht den Schöpfungsakt auf Geheiß Gottes, wie es in dem vorausgehenden Vers desselben Gedichts heißt. Gott befiehlt Ali, die Welt zu erschaffen, womit Ismail – selbst in Versen, in denen Ali die Schöpfung der Welt zugeschrieben wird – eine Unterscheidungsebene zwischen Gott und Ali einbaut.[37]

Bei Ismail zeigt sich daher auf dieser dritten Ebene der Ali-Vorstellung, dass Ali als aktive Facette der Göttlichkeit, als die der Welt und den Menschen zugewandte Seite des Göttlichen, verstanden wird, während darüber hinaus eine transzendente Ebene Gottes bestehen bleibt. Hier lassen sich unter anderem neuplatonische Deutungsmuster erkennen, weswegen der Sufismus-Experte Ahmet Karamustafa das Ali-Bild in Ismails Dichtung mit dem antiken Demiurgen, also dem Weltenschöpfer, vergleicht.[38] Der Islamwissenschaftler Mohammed Ali Amir Moezzi hat in vielen bemerkenswerten Studien zur mystischen Schia ein ähnliches Bild von Ali in nonkonformistischen Strömungen gezeichnet. In diesen Strömungen gilt Ali als das in der Welt Wirksame und Sichtbare (ẓāhir) des Göttlichen, während darüber hinaus eine absolut transzendente und verborgene (baṭın) Seite Gottes existiere.[39] Die dritte Ebene der Ali-Verehrung von Ismail scheint in dieser Tradition der nonkonformistischen Ali-Verehrung zu stehen.

Zusammenfassend lassen sich bei Ismail also drei Ebenen der Ali-Vorstellung rekonstruieren, begonnen bei einem historischen Ali über eine Muhammed-Ali-Vorstellung als präexistentes Licht bis hin zu Ali als aktiver Manifestation des Göttlichen und Weltenschöpfer. Dabei steht insbesondere die dritte Ebene in einem hermeneutischen Spannungsverhältnis zu den ersten beiden.

3.3 Ali-Ambiguitäten in Buyruk-Schriften

Im zweiten Beispiel werden Texte der Buyruk-Tradition herangezogen, die Alevit:innen weithin als konstitutive Schriften gelten. Obgleich die uns vorliegenden Manuskripte größtenteils Abschriften aus dem 17. und 19. Jahrhundert sind, gehen die ersten Nachweise dieser Quellenart auf die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück, als die Safaviden ihren religiösen Anhänger:innen in Anatolien unter osmanischer Herrschaft besagte Texte als religiöse Instruktionen sandten.[40] Bei Buyruk-Schriften handelt es sich um Textsammlungen, die je nach Manuskript anders angeordnet sein können und aufgrund dieses zusammengesetzten Charakters nicht einen, sondern mehrere Autoren haben dürften.[41] Thematisch decken sie ein breites Spektrum ab, begonnen bei Vorgaben zur Ordnung des sozioreligiösen Lebens über ritualpraktische Aspekte bis hin zu Ideen zur Kosmologie und Heiligenverehrung. So nehmen auch Ali-Vorstellungen einen nicht unerheblichen Platz in den Buyruk-Texten ein.

Dabei zeichnet sich in besagten Buyruk-Texten zunächst eine konformistische Vorstellung Alis ab, in der sich unter anderem auch die Superiorität Muhammeds aufzeigt und die entsprechend Schnittmengen zu zwölferschiitischen Narrativen aufweist. Ali gilt auch hier als treuester Anhänger Muhammeds, der dessen Erbe (vaṣiyet) weiterreicht und fortführt und auf Muhammeds Geheiß handelt. Muhammed unterweist ferner Ali in die mystischen Auslegungen des Islams.[42] Somit bekommt Muhammed nicht nur sozioreligiös eine übergeordnete Rolle zugeschrieben, sondern erfährt auch eine Priorisierung als eigentlicher Wahrer des religiösen Wissens, das er an Ali weitergibt.

Gleichzeitig finden sich in Buyruk-Texten zahlreiche Stellen, die Muhammed und Ali kosmologisch als gleichwertig und als Manifestation des oben genannten präexistenten Lichts beschreiben. So wird in dem Werk mehrfach die prophetische Überlieferung, dass Muhammed und Ali demselben Licht entstammen, zitiert und somit die Idee der ontologischen Gleichwertigkeit von Muhammed und Ali bedient.[43] Nicht selten wird diese Gleichheit recht explizit dargestellt, denn an mehreren Stellen heißt es schlichtweg: „Ali ist Muhammed, Muhammed Ali“.[44]

Ähnlich wie bei der Poesie Ismails sind diese ersten beiden Ebenen durchaus komplementär und stehen in keinem direkten Widerspruch. Die historisch und kosmologisch divergierenden Verhältnisse erklären Alevit:innen zumeist mit der Idee, dass Muhammed und Ali zwar ontologisch und kosmologisch gleichwertig sind, aber unterschiedliche Facetten des Lichts repräsentieren.[45] Während Muhammed das Äußere des Lichts darstelle, stehe Ali für dessen innere Dimension, womit auch versucht wird, den jeweils unterschiedlichen Status in ihrem historischen Wirken zu erklären.[46] Diese Vorstellung der kosmologischen Gleichwertigkeit von Muhammed und Ali zeichnet sich am häufigsten in den Buyruk-Schriften und vor allem in deren Prosa-Teilen ab.

Die Prosa-Teile werden indes regelmäßig von Gedichten unterbrochen, in denen sich teilweise ein anderes Ali-Bild finden lässt. In einem dieser Gedichte, das zwar Ismails Pseudonym Ḫaṭāʾyī trägt, aber vermutlich einem der vielen zuvor genannten Pseudo-Ḫaṭāʾyīs zuzuschreiben ist, wird Ali als „der Anfang und das Ende, das Verborgene und Sichtbare“ beschrieben, womit ihm der Dichter eine allumfassende kosmologische Dimension attestiert.[47] In einem weiteren Gedicht, ebenfalls von einem Pseudo-Ḫaṭāʾyī, wird gar der Umstand, ob Ali überhaupt erschaffen worden sei, in Frage gestellt. Nicht erschaffen worden zu sein ist im islamisch geprägten Kontext eigentlich Gott alleine vorbehalten:

„Ist Ali erschaffen?“ er daraufhin sagte. Muhammed sein Gesicht sah, „Freund“ er sagte.[48]

Muhammed erblickt also in Alis Gesicht das Antlitz des Freundes. Zwar könnte man Freund in diesem Zusammenhang profan und wörtlich auslegen – die lexikalische Mehrdeutigkeit scheint wie auch die offene Frage nicht unbewusst gewählt worden zu sein.[49] In diesem Kontext drängt sich aber auch eine Lesart auf, dass Freund hier für Gott steht. Die Freundesmetapher für Gott ist nicht nur eine der beliebtesten in alevitischen Dichtungen, auch das Motiv, in Alis Gesicht Gottes Antlitz zu erkennen, ist in dieser Tradition der Ali-Verehrung durchaus beliebt.[50] In jedem Fall scheinen hier die Rollen von Ali und Muhammed wieder im Vergleich zur ersten Ebene vertauscht: Muhammed wird in Alis Geheimnis eingeweiht und erblickt daraufhin in ihm eine Manifestation Gottes selbst. Diese Aussage konfligiert sodann mit der vorherigen Aussage, ebenfalls aus den Buyruk-Texten, dass Muhammed Ali in die mystischen Lehren einführte.[51]

4 Erklärungsversuche von Ambiguitäten

Sowohl in Ismails Poesie als auch in den Buyruk-Schriften zeichnen sich mindestens drei verschiedene Vorstellungen von Ali ab, bei der die ersten beiden Ebenen komplementär sind, aber die dritte Ebene mit diesen beiden Ebenen konfligiert. Mit Petrus Abaelardus gesprochen sind daher die ersten beiden Ebenen als diversa, also als differente, aber komplementäre Ansichten, die dritte Stufe der Ali-Verehrung hingegen als adversa, als ein Gegensatz zu diesen beiden anderen Ebenen zu verstehen.[52] Zwar sind alle drei Ebenen bei Ismail und in Buyruk-Schriften wiederzufinden, allerdings sind sie unterschiedlich ausgeprägt: Während bei Ismail die ersten beiden Ebenen weniger vorzufinden sind, erhalten gerade diese in Buyruk-Schriften mehr Raum. Die dritte Ebene nimmt umgekehrt bei Ismail einen zentralen Platz ein, während sie in Buyruk-Schriften nur angedeutet wird. Wie können nun aber diese Ambiguitäten erklärt und interpretiert werden? Hierbei zeichnen sich drei Erklärungsansätze ab, die erstens die Ambiguitäten auf historisch variierende diskursive Kontexte zurückführen, sie zweitens als defizitäre Mehrdeutigkeiten auslegen oder schließlich in ihnen umgedreht eine Intention sehen.

4.1 Historisierung von Ambiguitäten

Zunächst bietet es sich aus historiographischer Perspektive an, Ambiguitäten in alevitischen Quellen mit unterschiedlichen Entstehungskontexten, späteren Hinzufügungen und somit mit unterschiedlichen diskursiven Zusammenhängen zu erklären. Wie auch bei anderen Religionen der Fall, ist das Alevitentum aus diversen Transferprozessen mit verschiedenen Einflusssphären hervorgegangen, die zu bestimmten religiösen Fragen unterschiedliche Antworten boten. Es wurde bereits dargelegt, dass innerhalb alidischer Denominationen die Attribuierungen Ali gegenüber durchaus vielgestaltig und divergent ausfielen. Folglich könnten Ambiguitäten mit verschiedenen historischen sowie religiös-kulturellen Kontexten erklärt werden.

In der Geschichte vieler Religionen setzte indes eine Phase ein, die diese mehrdeutigen Lehrmeinungen im Zuge einer Ambiguitätstilgung zugunsten einer Position normierte. Insbesondere die Genese der Buyruk-Texte überschneidet sich mit solchen Konfessionalisierungsprozessen im Safaviden-Reich, das sich von einer nonkonformistisch-mystischen Ausrichtung zur Scharia-konformen Zwölferschia im Laufe des 16. Jahrhunderts allmählich transformieren sollte.[53] Als Textsammlung dürften die Buyruk-Texte vermutlich über einen längeren Zeitraum in dieser Phase der religiösen Transformation geschrieben worden sein, als noch beide religiöse Ausrichtungen im Zuge der Aushandlungsprozesse im Diskurs vertreten waren. Der Umstand, dass Buyruk-Texte in einem fortgeschritteneren Stadium dieser zwölferschiitischen Konfessionalisierung aufgesetzt wurden, dürfte auch die im Vergleich zu Ismail geringere Präsenz der nonkonformistischen Vorstellung der dritten Ebene erklären.[54]

Zugleich ist bei Buyruk-Texten auch ein editorisches Moment zu berücksichtigen. Da von Buyruk-Texten nur Abschriften vorliegen, ist nicht bekannt, ob nicht auch hier und da Teile im Zuge der Abschrift hinzugefügt worden sind. Insbesondere die Auswahl der Gedichte kann von Handschrift zu Handschrift variieren.[55] Die ambige Ali-Vorstellung in der Buyruk-Schrift könnte entsprechend damit erklärt werden, dass der Prosa-Teil und das Gedicht, die konfligierende Ideen aufzeigen, von verschiedenen Autoren stammen und nur in der finalen Edition des Endtextes zusammenfielen.

Hier stellt sich indes die Frage, warum gerade ein solches Gedicht ausgewählt wurde, das abweichende Vorstellungen zu Ali im Vergleich zu den weiteren Textabschnitten aufzeigt, und eben nicht ein mit den weiteren Abschnitten komplementäres Gedicht. Erneut können hier variierende Diskurse als Erklärungsansatz herangezogen werden. Denn die besagte zwölferschiitische Konfessionalisierung der Safaviden erreichte nicht im selben Umfang ihre anatolischen Anhänger:innen, die noch größtenteils an der nonkonformistischen Tradition festhielten.[56] Da die heute vorliegenden Buyruk-Abschriften wiederum größtenteils in Anatolien angefertigt wurden, überrascht es auch nicht, dass die Kopierer zur poetischen Ergänzung der Texte nonkonformistische Gedichte bevorzugten, die mit der dritten Ebene der Ali-Verehrung korrespondieren.

Der historisierende und diskursanalytische Erklärungsansatz hilft insbesondere beim Verständnis von intertextuellen Ambiguitäten, also von Ambiguitäten verschiedener Texte, die demselben religiös-kulturellen Kontext zugeordnet werden, und von Schriften bzw. Abschriften wie etwa der Buyruk-Tradition, die aus der Feder mehrerer Personen aus verschiedenen diskursiven Kontexten stammen. Allerdings greift der Ansatz nicht ohne weiteres bei Texten, die konkret einzelnen Autoren zugeordnet werden können.

4.2 Defizitäre Ambiguitäten

Ein weiterer Erklärungsansatz, den insbesondere die ältere Alevitentumsforschung öfters bediente, legt die Ambiguitäten in alevitischen Werken defizitär aus. Fuad Köprülü, Abdülbaki Gölpınarlı und auch spätere Historiker wie Ahmet Yaşar Ocak – allesamt prägende Figuren der Alevitentumsforschung – haben mehrdeutige Lehrmeinungen im Alevitentum und im Bektaschitum, jenem mit dem Alevitentum eng verwobenen Sufi-Orden, negativ als Inkohärenz eingestuft.[57] Mit einem durchaus abwertenden Duktus wird in diesen Texten Alevit:innen und Bektaschis zuweilen die Fähigkeit abgesprochen, die Widersprüche in ihren Lehren zu sehen, so dass die Mehrdeutigkeiten als Ergebnis einer mangelnden religiös-theologischen Reflexion gedeutet werden. Selbst in den verdienstvollen Arbeiten Krisztina Kehl-Bodrogis, der Türöffnerin der deutschsprachigen Alevitentumsforschung ab den späten 1980er Jahren, finden sich vergleichbare Narrative zur Inkohärenz wieder, wenngleich wesentlich abgeschwächter und weniger pejorativ als etwa bei Köprülü oder Gölpınarlı.[58]

Allerdings liegt dieser Wahrnehmung, insbesondere von Autoren wie Köprülü oder Gölpınarlı, ein nach Kohärenz und Eindeutigkeit ausgelegtes Verständnis religiöser Doktrinen zugrunde, demzufolge Mehrdeutigkeiten als etwas ungewollt Fehlerhaftes und Abwegiges erscheinen, so dass genannte Forscher:innen von unbeabsichtigten und entsprechend defizienten Ambiguitäten ausgingen. Die Möglichkeit aber, dass die Ambiguitäten auch einer Intention oder gar Strategie folgen könnten, spielt in ihren Überlegungen keine Rolle.

4.3 Intendierte Ambiguitäten

Im dritten Erklärungsansatz folgen die Ambiguitäten, konträr zur Argumentation der älteren Alevitentumsforschung, einer Intention, gar einer Strategie. In den Vorüberlegungen zur Ambiguität wurde ja bereits dargelegt, dass es Werke gibt, in denen die Ambiguität angelegt und absichtlich platziert ist. Die Ambiguitäten liegen bereits in der Produktion der Werke und sind diesen inhärent; häufig sind sie sogar mit einer oder mehreren Absichten verbunden. Die offenkundige Frage ist, welche Intention man mit den Ambiguitäten verfolgt haben könnte. Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, da man sich in spekulatives Terrain begibt. Erklärungsansätze können etwa von spiritueller Bescheidenheit bis hin zu beabsichtigter Verwirrung reichen: also, dass sich die Autoren mit verschiedenen Antworten auf das Wesen Alis oder auch auf Jenseitsvorstellungen im Sinne einer negativen Theologie implizit ihre eigene Unkenntnis eingestanden. Ismail schreibt in mehreren Gedichten, dass Alis Wesen für die Menschen nicht greifbar sei; Ambiguitäten in Bezug auf Ali könnten daher ein Mittel sein, diese Grenzen der eigenen Erkenntnis literarisch zu verarbeiten.[59] Die Mehrdeutigkeiten könnten auch die Absicht verfolgen, die Rezipierenden verwirren zu wollen, um bestehende Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen.[60] Nach Thomas Bauer legten islamische Theologen Ambiguitäten in sakralen Texten als ein Mittel für ein tieferes Verständnis aus, als eine „göttliche List“ und zugleich Gnade, die zu einer stetigen Auseinandersetzung mit dem Text anregen und so ein tieferes Verständnis ermöglichen sollen.[61] So überrascht es nach Bauer auch nicht, dass diese Überzeugung „gottgewollter“ Ambiguitäten auch die Produktion ambiger Texte begünstigte, die gleichfalls damit eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Texten bezwecken wollten.[62]

Kehl-Bodrogi führt ferner mehrdeutige Aspekte in der alevitischen Glaubenslehre auf die Praxis der Takiyye zurück. Die Takiyye ist insbesondere bei schiitischen und alidischen Denominationen eine Praxis, nach der die Religionsangehörigen ihre eigentlichen religiösen Überzeugungen aufgrund politisch-religiöser Verfolgungen verheimlichen und nach außen hin konformistische Überzeugungen teilen.[63] Demnach deutet Kehl-Bodrogi Aussagen von Alevit:innen, die einer Divinisierung Alis widersprechen, als eine Form der Takiyye:[64] Die eigentliche Überzeugung sei die Divinisierung, die aber aufgrund der Abweichung zur diskursbestimmenden Islamvorstellung durch konformistischere Vorstellungen im performativen Agieren ersetzt wird. Zwar ist das Argument der Takiyye nicht gänzlich von der Hand zu weisen und bei performativen Texten durchaus ein Schlüssel zu einem tieferen Verständnis, aber es besteht die Gefahr, allzu voreilig damit zu argumentieren, um eine bereits vorgefertigte Kohärenz zu bestätigen und Entgegenlaufendes als Takiyye zu disqualifizieren.[65] Nichtsdestotrotz würde die Takiyye auf eine bewusste und intendierte Ambiguität deuten, nonkonformistische Ideen zu verklausulieren.

Schließlich könnten die verschiedenen Ali-Verständnisse auch die Strategie verfolgen, unterschiedliche Adressat:innen anzusprechen. Demnach würden sich die jeweils unterschiedlichen Ali-Bilder an variierende Publika richten. Indizien für strategische Ambiguitäten dieser Art kann man etwa den Schriften des Dichters Kaygusuz Abdal (1341–1444) entnehmen, der der Bektaschiyya zugerechnet und von Alevit:innen größtenteils als Heiliger verehrt wird. Die Literaturwissenschaftlerin Zeynep Oktay Uslu hat anschaulich dargelegt, dass Kaygusuz Abdal in seinen Schriften religiösen Termini und Konzepten verschiedene Bedeutungsebenen zuschreibt.[66] Gemäß dem mystisch-sufischen Stufensystem der sogenannten Vier Tore und Vierzig Stufen (dört kapı, kırk makam) habe Kaygusuz Abdal entsprechend variierender Zielgruppen in seinen Gedichten religiöse Begriffe unterschiedlich semantisch belegt. Das Prinzip der Vier Tore und Vierzig Stufen ist eine zentrale Glaubensvorstellung im Sufismus und im Alevitentum, die den sufisch-mystischen Aufstieg des Menschen gen Einswerdung mit der göttlichen Wahrheit in besagte vier Tore und zehn jeweilige Zwischenstufen einteilt. Der Aufstieg nimmt seinen Anfang bei der Einhaltung religiöser Regeln (şerīʿat, 1. Tor) und mündet letztlich in die mystische Erkenntnis (marʿifet, 4. Tor).[67] Menschen auf dem spirituellen Pfad werden entsprechend ihres Fortschritts auf diesem Weg in diese vier verschiedenen Tore eingeteilt. Oktay Uslu hat aufgezeigt, dass Kaygusuz Abdal zentrale religiöse Begriffe in seinen Gedichten und Prosawerken entsprechend dieser Vierteilung unterschiedlich definiert: Je nach imaginierter Adressat:innengruppe legt Kaygusuz die Begriffe entweder entsprechend des ersten, zweiten, dritten oder vierten Tores aus. Dadurch erhalten die religiösen Termini je nach Adressat:innengruppe vier verschiedene Bedeutungsebenen.[68] Auch hinsichtlich Ali findet Oktay Uslu besagte Ebenen in Kaygusuz’ Werk wieder, wo sich die ersten Ebenen an Lai:innen und die weiteren an fortgeschrittenere Adressat:innen richteten.[69] Wenngleich Oktay Uslu es konzeptuell nicht so aufgreift, handelt es sich hier um eindeutige strategische Ambiguitäten, die der Idee folgen, Mehrdeutigkeiten mit unterschiedlichen Publika korrespondieren zu lassen.[70]

Wenn man mit diesen verschiedenen Überlegungen zur Poesie Ismails zurückkommt, lässt sich durchaus ein Muster in den Ambiguitäten zu Imam Ali ablesen, das auf eine Intention hindeutet. Hierbei ist die Idee, die Ambiguitäten auf variierende Zielgruppen zurückzuführen, ein naheliegender Ansatz, wenngleich auch hier der Kausalverbindung etwas Spekulatives anhaftet. Nichtsdestotrotz ist die Vorstellung, dass verschiedene Menschen auch innerhalb einer religiösen Vergemeinschaftung für unterschiedliche Formen religiöser Überzeugungen zugänglich sind, eine naheliegende Schlussfolgerung. Genauso naheliegend scheint der Umstand zu sein, dass daher religiöse und auch politische Akteure mehrdeutige religiöse Angebote als Strategie verwendeten, um verschiedene Formen der Spiritualität anzusprechen und auf diese Weise zugleich eine breitestmögliche Rezeption zu erfahren.[71]

5 Resümee

Die aufgezeigte Pluralität der Ali-Vorstellungen, die von konformistischen Überzeugungen bis hin zu Divinisierungstopoi reichen, zeigt sich auch an anderen religiösen Ideen wie etwa bei Vorstellungen über das jenseitige Leben oder bei der Ontologie. Mehrdeutige Glaubenselemente sind daher in vielfältiger Weise in der historisch überlieferten alevitischen Glaubenslehre vorzufinden. Erklärungsversuche dieser Ambiguitäten sind indes nicht pauschal vorzunehmen, sondern müssen am Einzelfall vorgenommen werden.

Mehrdeutigkeiten können einerseits auf unterschiedliche diskursive Kontexte zurückgeführt werden, in denen über Abschriftspraktiken unterschiedliche zeitliche und diskursive Kontexte in einen Endtext mündeten. Bei Buyruk-Schriften etwa zeichnet sich eine solche Form der Ambiguität ab, als die Manuskriptkopierer Gedichte in den Text einbauten, deren Ali-Verständnis in einem Spannungsverhältnis zum restlichen Text steht. Ob sie dies mit Absicht taten, um eine weitere Deutung in den Text zu integrieren, ist schwer zu beantworten. Allerdings legt die Poesie Ismails die Idee nahe, dass mehrdeutige Glaubensüberzeugungen in diesem religiös-kulturellen Milieu eine Strategie verfolgten. Die mehrdeutigen Ali-Bilder scheinen nämlich mit unterschiedlichen Adressat:innen zu korrelieren. In der sufischen Mystik Ismails werden wie bei Kaygusuz Abdal Menschen je nach ihrem attestierten Fortschritt gen göttliche Einheit unterschiedlich kategorisiert. In ihrer Poesie scheinen sie sich an diese spirituell unterschiedlich eingestuften Menschen zu richten und entsprechend auch religiöse Begriffe und Ideen mehrdeutig zu definieren.

So stellt sich die Frage, ob aufgrund bisheriger Beobachtungen pars pro toto auf ein allgemeineres Phänomen der Ambiguität in historisch-alevitischen Überlieferungen zu schließen ist. Bei solchen allumfassenden Urteilen ist stets Vorsicht geboten, da sie nur unter dem Vorbehalt des Idealtypischen formuliert werden können. Aber das bisher Erschlossene legt zumindest die Idee nahe, dass man bei vielen Fragen der religiösen Sinnstiftung – nicht viel anders als der eingangs zitierte Rabbi – vergebens nach eindeutigen Antworten suchen wird.

Online erschienen: 2022-11-19
Erschienen im Druck: 2022-11-03

© 2022 Cem Kara, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 2.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zfr-2022-0015/html
Scroll to top button