Die Geschichte der Aleviten im Osmanischen Reich und der türkischen Republik ist gekennzeichnet von politischer Bevormundung, Gewalt und offener Ablehnung. Immer wieder haben die Hohe Pforte oder der türkische Staat legistische oder gewaltsame Versuche unternommen, um die alevitische Gemeinschaft in ihrer Gesellschaft aufgehen zu lassen. Auch wenn sie einzelne Erfolge verbuchen konnten, der alevitische Widerstand fand Auswege, dem Verlust der eigenen Identität bzw. einer Assimilation entgegenzuwirken. Gleichzeitig leisten historische und aktuelle Gewalt‑, Ausgrenzungs- und Verlusterfahrungen einen wichtigen Beitrag zur Verstärkung des Alevitischen. Dabei sind die politischen, religiösen und gesellschaftlichen Forderungen der Aleviten in der türkischen Republik bis heute keine, die die türkische Nation oder Identität untergraben würden. Vielmehr ist es das Versäumnis des türkischen Staates, bspw. die Aleviten in Identitäts- und Religionsfragen als gleichberechtigt anzuerkennen, was u. a. zur Entstehung von Gegensätzen und Dichotomien geführt hat. Wie bereits von vielen ForscherInnen der „Turkish Studies“ festgehalten, gehören die Aleviten seit Gründung der Republik bis in die Gegenwart zu den eifrigsten Anhängern Atatürks. Der aktuelle Chef der Republikanischen Partei (CHP) ist ein bekennender Alevit. Auch finden sich in vielen alevitischen Vereinen Bilder von Kalif Ali und Atatürk, die nebeneinander die Wände schmücken.

Ein Wort noch zum Begriff Alevi und den Aleviten selbst: Ganz bewusst wird in diesem Artikel keine Definition, wer bzw. was ein Alevite ist, vorgenommen. Vor allem deswegen nicht, weil das Alevitische gerade durch seinen Facettenreichtum und nichtkonformistischen Zugang zur Theologie und mit der gelebten Religionspraxis eigene (mündliche und textliche) Traditionen hervorgebracht hat. Alevitische Anklänge an orthodoxe oder nicht-orthodoxe islamische Gruppen sind keineswegs zu leugnen. Genauso wenig ist es jedoch von der Hand zu weisen, dass Aleviten sowie deren Verständnis von alevitischer Religion sich in wesentlichen Punkten von islamisch-sunnitischen oder -schiitischen Lehren unterscheiden.Footnote 1

Der Begriff Diaspora erhielt seine Popularität in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen seit den 1990er-Jahren. Mit Blick auf die Aleviten wird er in diesem Beitrag anhand von drei Charakteristika wie folgt definiert: (a) Die Auswanderung eines Kollektivs in jüngerer Zeit oder seiner Vorfahren vor vielen Jahrhunderten aus seinem ursprünglichen Heimatland. (b) Eine vorgestellte oder reale Konnektivität und Gedächtnispolitik mit den noch im Herkunftsland bzw. in der Herkunftsregion lebenden Gemeinschaftsmitgliedern. (c) Einflussnahme und Vertiefung der Beziehungen mit dem neuen Heimatland bei gleichzeitiger Interessenvertretung der eigenen Gemeinschaft weltweit. Die genannten Definitionen sind keineswegs absolut zu setzen und können von Gruppe zu Gruppe variieren.Footnote 2

In diesem Artikel soll der Fokus auf der jüngeren alevitischen Geschichte in der Türkei und Deutschland liegen. Entwicklungen in der Türkei und der alevitischen Diaspora in der Bundesrepublik sollen zuerst unabhängig voneinander dargelegt und in der Zusammenfassung miteinander in Beziehung gesetzt werden. Die Entscheidung hierfür folgt aus zwei wichtigen Überlegungen: Die Aleviten gehören zu wichtigen Anhängern des türkischen Republikgründers und wurden in der Gründungszeit der Republik sowie im Zeitalter der globalen Systemkonkurrenz nicht dabei unterstützt, eine eigene Identität und Religionspraxis auf- und auszubauen und eine solche auch zu praktizieren. Während des Kalten Krieges waren es vor allem die Befürchtungen des türkischen Nationalstaats, dass der kommunistische Nachbar im Südosten, die Sowjetunion, durch politische und ideologische Einflüsse Nichtmuslime oder im sunnitischen Islam nicht tief verwurzelte Individuen und Kollektive auf anatolischem Territorium durch marxistische Materialismus- und Gesellschaftstheorien „bekehren“ und somit die Türkei zu einem Satellitenstaat transformieren könnte.

Eine von den USA gestützte WirtschaftspolitikFootnote 3 sollte dies verhindern und eine starke antikommunistische Zivilgesellschaft etablieren.Footnote 4 Die Erwartungen wurden rasch enttäuscht, die türkische Ökonomie der 1960er-Jahre führte zu einer Urbanisierung und Entwurzelung großer Teile der Gesellschaft. Dies führte nicht nur zur Bildung verschiedener Vereinigungen von kemalistisch-nationalistischen und islamistisch-nationalistischen Gruppierungen, die durch radikale Ideologien Solidaritätsgemeinschaften bilden wollten, sondern auch dazu, dass viele Aleviten ihre Identität nicht öffentlich zeigten, weil ihnen ihre unorthodoxe Glaubenstradition vorgehalten wurde und sie darüber hinaus bzw. deswegen besonders verdächtig waren, für marxistische Ideen anfällig zu sein.Footnote 5

Ab Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er-Jahre ist vor allem das Zusammenspiel der alevitischen Gesellschaft in der Türkei und auch die politische Emanzipation alevitischer Diaspora-Gemeinschaften in Deutschland kennzeichnend. Beide fordern durch ihren Einfluss mehr Anerkennung und Schutz alevitischer Kultur und Leben in der Türkei ein. Damit nähern wir uns aus einer sozial-konstruktivistischen Perspektive der alevitischen Diaspora in Deutschland, deren Emanzipation auf europäischem Boden vor allem auch als Reaktion auf spezifische Erfahrungen und Ereignisse in der Türkei zurückgeführt werden muss. Gleichzeitig muss auch berücksichtigt werden, welche Konstruktionen von Identität alevitische Akteure in der Diaspora verfolgen und damit selbst eine Deutungshoheit beanspruchen. Anders gesagt, die immer wiederkehrende Gewalt gegen Aleviten während der globalen Systemkonkurrenz und am Ende des Kalten Krieges führte aus unterschiedlichen Gründen sowie realpolitischen Gegebenheiten in der Türkei und in Deutschland zu einer Emanzipation der Aleviten. Diese Entwicklung soll, wie oben bereits ausgeführt, zuerst unabhängig voneinander aufgezeigt und im Anschluss miteinander verwoben werden.

1 Gewalt, Verfolgung und Widerstand im Kontext der Türkei während der globalen Systemkonkurrenz: ein kompakter Überblick

Ein in der Literatur häufig anzutreffendes Fazit zur alevitischen Geschichte in der Türkei besagt, dass Aleviten seit der Gründung der Republik seitens staatlicher Institutionen grundsätzlich vorgeworfen wurde, sich von sozialistischen oder marxistischen Lehren besonders angezogen zu fühlen.Footnote 6 Sie werden immer wieder Mitte-Links- oder Linksparteien zugeordnet. Analysiert man die politischen Untersuchungen der 1950er-Jahre aufmerksam, so fällt auf, dass die alevitischen Stimmen, die dokumentiert worden sind, keineswegs der islamischen Demokratischen Partei (DP) ablehnend gegenüberstanden. Ganz im Gegenteil, die türkische Gesellschaft ganz allgemein – Aleviten sowie Sunniten und andere Konfessionen inbegriffen – erhoffte sich von einem Wahlerfolg der DP sogar eine politische, wirtschaftliche und religiöse Öffnung, die während der Einparteien-Regierung (1923–1949) nicht realisiert worden war.Footnote 7

Gleichzeitig zeigt auch die neuere Forschung zur Türkei der 1950erFootnote 8-Jahre, dass die DP durchaus gewillt war, das Land stärker zu demokratisieren.Footnote 9 Dass die demokratiepolitischen Interessen und Ziele der DP nicht realisiert wurden, lag an verschiedenen Herausforderungen. Wie von Jakob M. LandauFootnote 10 und Martin van BruinessenFootnote 11 festgehalten wurde, führte die rapide Industrialisierung und Urbanisierung auf anatolischem Boden nicht nur zum Wohlstand der Bevölkerung, spätestens Ende der 1960er-Jahre radikalisierten und bewaffneten sich auch die Peripherien der türkischen Politik.Footnote 12 Vorangetrieben wurde die wirtschaftliche und städtische Modernisierung durch massive Hilfe aus WashingtonFootnote 13, welche die Türkei aufgrund ihrer Unterstützung des westlichen Bündnissystems erhielt. So stellte Ankara im Koreakrieg die fünftstärkste Armee im Kampf gegen die kommunistischen Nordkoreaner zur Verfügung.Footnote 14 Dies trug zu einer antikommunistischen Haltung in der Türkei bei, die jedweden politischen Diskurs über marxistische Gesellschaftstheorien als Verrat an der Türkei und der freien Welt klassifizierte. Diese Entwicklung führte zu einer Fragmentierung der türkischen Gesellschaft, die während des wirtschaftlichen Aufschwungs verschleiert blieb und während der Wirtschaftskrise in den 1970er-Jahren unbarmherzig ihren Blutzoll forderte.

Der Großteil der damals und bis in die 1960er-Jahre in der Türkei lebenden Gesellschaft hatte vorwiegend in ruralen Gebieten seinen Lebensmittelpunkt und konnte durch enge soziale Beziehungen bis zu einem gewissen Grade wirtschaftliche Sicherheit sowie Unabhängigkeit vom Staat aufrechthalten. Betrachtet man aus dieser Perspektive die alevitische Gesellschaft der 1950er-Jahre, so fällt auf, dass das Alevitische über das rein Religiöse hinausgeht. Alevitische Dorfgemeinschaften sicherten in den ländlichen Regionen der Türkei durch eine Solidargemeinschaft ihr Überleben. Die wirtschaftliche Liberalisierung der Türkei führte ohne die Schaffung zusammenwirkend funktionierender wohlfahrtsstaatlicher sowie gewerkschaftlicher Institutionen, wie in Deutschland oder Österreich, zu einer Polarisierung der Gesellschaft. Genauer gesagt und im Sinne einer paraphrasierten Definition von Karl Marx, die Entwurzelung traditioneller Gesellschaften führte zur Entstehung isolierter und verletzlicher Individuen, die sich zur Bildung neuer Solidaritätsgesellschaften – und hier trennen wir uns von Marx – linken oder rechten Ideologien verschreiben. Dass sich die alevitische Gemeinschaft linken Gesellschaftstheorien zugewandt hat, liegt auch daran, dass sich die DP und andere türkische Parteien im Rahmen des Kalten Krieges und politischen Kampfs gegen den Kommunismus eine türkisch-nationalistische Perspektive mit sunnitischen Elementen angeeignet hatten und somit den Aleviten a priori jegliche Beteiligung und Möglichkeit einer politischen oder religiösen Partizipation unmöglich machten. In dieser politischen Atmosphäre der Radikalisierung der türkischen Gesellschaft fanden auch die Massaker der 1970er und 1980er-Jahre an den Aleviten statt.

Wir wollen das eben Skizzierte mit einer innenpolitischen Analyse greifbar machen: Mit der Industrialisierung sowie Urbanisierung in den Zentren von Zentral‑, Ost- und Südostanatolien konnte die türkische Bevölkerung allgemein neuen sowie attraktiven Beschäftigungs- und Erwerbsmöglichkeiten nachgehen. Die Agrarwirtschaft verlor zunehmend an Attraktivität bei gleichzeitiger Entstehung von einzelnen Großgrundbesitzern und deren Monopolen im Bereich der Landwirtschaft. Diese Entwicklung führte parallel dazu, dass große Teile der alevitischen und sunnitischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Bereich der unteren und mittleren Klassen sowie Arbeitgeber miteinander in engverflochtenen wirtschaftlichen Abhängigkeiten gemeinsam die Produktivität der türkischen Wirtschaft gewährleisteten. Diese Nähe sollte keine Herausforderung sein, solange sich die türkische Ökonomie im Aufschwung befand.

In den 1970er-Jahren änderte sich dies. Die türkische Wirtschaft verschlechterte sich auf Grund nationaler und internationaler Entwicklungen, wie dem Zypernkonflikt, Jom Kippur-Krieg sowie der Ölkrise, um nur einige wenige zu nennen. Dies wiederum führte dazu, dass Parteien rechts der Mitte immer stärker wurden und die stärkste Partei, die republikanische Partei Atatürks (CHP), begann, die menschenverachtende und gewaltdurchtränkte Gossen-Rhetorik ihrer Herausforderer punktuell zu übernehmen. Ebenso gilt es in Erinnerung zu rufen, dass die damaligen Parteien der Mitte und von Mitte-Rechts seit Beginn der 1950er-Jahre explizit verschiedenste türkisch-nationalistisch-muslimische Vereinigungen mit massiven finanziellen Subventionen zur Bekämpfung kommunistischer und als kommunistisch deklarierter Gruppierungen unterstützten oder solche gründeten.Footnote 15 Diese Entwicklung erreichte mit der Gründung der Milli Selamet Partisi (MSP/Nationale Heilspartei) einen tragischen Höhepunkt. Letztere stellte sich explizit gegen die kemalistisch-politische Idee einer republikanischen Türkei und wollte eine islamische Moderne etablieren. Binnaz Toprak bezeichnet dies als einen der bedeutendsten Paradigmenwechsel in der türkischen Innenpolitik.Footnote 16 Parallel dazu führten ihr nahestehende Vereinigungen unter Akzeptanz des türkischen Staates den Slogan „Komünizme Cihat Açɪktɪr“ („Gegen den Kommunismus ist jedweder Jihad erlaubt“) ein.Footnote 17

In den großen urbanen Zentren wie etwa Malatya, Sivas, Kahramanmaraş und Çorum katapultierten sich 1973 und 1977, in einem Zeitraum von weniger als vier Jahren, islamistische und ultra-nationalistische Parteien auf Platz zwei und drei der Wählerlisten und konnten somit massiv das tagespolitische Geschehen beeinflussen. Ihre Politik führte auch zu einer Militarisierung der Straßen. Wähler der oben genannten Parteien bewaffneten sich und gingen auf die Jagd auf politische Gegner. 1978, zwei Jahre vor dem dritten Militärputsch in der Türkei, fanden in den oben genannten Städten Pogrome gegen Aleviten statt. In Kahramanmaraş, um nur ein Beispiel anzuführen, fanden mehr als 111 Menschen den Tod. Die türkische Regierung reagierte erst am dritten Tag des Pogroms. Welche Gründe Bülent Ecevit für das Warten hatte, darüber kann nur spekuliert werden. Eine Option ist jedoch, dass die Gewaltausbrüche als eine Art Ventil zur Besänftigung der sunnitischen Bevölkerung betrachtet wurden. Letzteres führte nicht nur dazu, dass viele Aleviten mit dem Leben bezahlen mussten, sondern auch ihr Vertrauen in die türkische Rechtsstaatlichkeit wurde nachdrücklich erschüttert.

Die 1980er-Jahre führten auch nicht zu einer Entspannungspolitik gegenüber den in der Türkei lebenden Minderheiten ganz allgemein, vielmehr verstärkten sie den islamistisch-nationalistischen Antagonismus gegenüber Aleviten, Linken, Intellektuellen und von ihnen als feindlich kategorisierten Gruppierungen. Flankiert wurden sie vor allem von der „türkisch-islamischen Synthese“Footnote 18, vom Afghanistankrieg und der islamischen Revolution im Iran. Die angeführten Gewalterfahrungen führten in den 1980er-Jahren zu einer politischen Emanzipationsbewegung, die ihren Ursprung in der Türkei hatte, jedoch über die Grenzen Anatoliens hinausging und ab den 1990er-Jahren Früchte zu tragen begann.

2 Gewalt, Verfolgung und religiös-politische Emanzipation der Aleviten ab den 1990er-Jahren: Die Türkei

Die Gewalterfahrungen der 1970er und 1980er-Jahre führten nicht nur zu einer politischen Ernüchterung der Aleviten in der Türkei, sondern auch dazu, dass ein Teil von ihnen begann, sich selbst unabhängig von der türkisch-politischen Landschaft und linken Ideologien zu organisieren. Der Anspruch und das Versprechen der kemalistischen CHP, eine säkulare und egalitäre Gesellschaft in der Türkei zu etablieren, lag in weiter Ferne. Sozialistische oder kommunistische Ideologien verloren kontinuierlich an politischer Attraktivität, zumal im Rahmen des dritten Putsches viele Organisationen und Funktionäre links der CHP inhaftiert oder politisch ausgeschaltet wurden. Ebenso wirkten auch internationale Ereignisse und die Haltung der Sowjetunion mit. Darüber hinaus fochten kommunistisch geprägte Stadtguerilla-Organisationen einen bewaffneten Kampf mit dem türkischen Staat und dies wiederum führte u. a. zu einer „Hermeneutik des Verdachts“ gegenüber Aleviten.

Solchen Entwicklungen galt es auf politischer, religiöser, sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Ebene entgegenzutreten. Zu den wichtigsten dieser Initiativen gehörten die Gründung von Haci Bektaş-Vereinen, das Pir Sultan Abdal Kültür Derneği (PSAKD) und C.E.M Vakfı (Stiftung).Footnote 19 Alle drei Organisationen erhoben zwar den Anspruch, das Sprachrohr und die rechtlich legitime Vertretung der Aleviten zu sein, gleichzeitig unterschieden sich ihre politischen Interessen sowie gesellschaftspolitischen Vorhaben wesentlich voneinander. Ein Ziel der Haci Bektas-Vereine war es, die verschüttete, jedoch authentische alevitische Religionstradition sowie Kultur freizulegen. C.E.M Vakfı u. a. fokussierten sich auf eine starke Kooperation und Übereinkunft mit dem türkischen Staat und wollten parallel dazu einen gemeinsamen kleinen theologischen bzw. religiösen Nenner finden, damit auch zukünftig schwierige bürokratische Fragen, wie die Anerkennung der Aleviten als Religionsgemeinschaft, im gemeinsamen Konsens bewältigt werden konnten.Footnote 20 PSAKD konfrontierte den türkischen Staat mit dessen politischen Versäumnissen, die alevitische Religion und das Leben der Aleviten in der Türkei zu schützen. Gemeinsam war den drei Gruppen jedoch die Überzeugung, dass die alevitische Identität und alles, was mit ihr zusammenhing, von Aleviten stärker auf dem politischen Parkett präsentiert und verteidigt werden müsse. Nicht zuletzt deswegen gelang es ab den 1990er-Jahren, jährlich Haci Bektas Veli-Gedenkfeiern in der Türkei zu organisieren und somit den Grundstein für ein wichtiges alevitisches Großereignis zu legen. Teilweise unter freiem Himmel praktizierten Aleviten aus der Türkei und weltweit religiöse Rituale – wie etwa den Cem.Footnote 21

Überschattet wurden die positiven Entwicklungen soziopolitischer sowie religiöser Emanzipation der Aleviten in den 1990er-Jahren bis in die 2000er Jahre durch neue Pogrome. Diese führte auch dazu, dass die einzelnen alevitischen Vereinigungen oder Organisationen eine größere inhaltliche Distanz zueinander etablierten. Darüber hinaus beschuldigten sie sich gegenseitig, kein Interesse an der Bewahrung alevitischer Religion und Kultur zu haben sowie teilweise die Gewalt auch selbst initiiert zu haben. Zwei Ereignisse sollen hier in kompakter Form nachskizziert und in religionswissenschaftlichem sowie politischem Kontext analysiert werden: Das Sivas-Pogrom und die Ereignisse in Gazi, einem Stadtteil von Istanbul.

Der PSAKD organisierte am 2. Juli 1993 in Sivas ein alevitisches Kulturfestival zu Ehren von und zum Gedenken an Pir Sultan Abdal. Dieser wurde durch seine Poesie und Kritik an den Herrschern seiner Zeit, im 16. Jahrhundert, zu einem wichtigen Vorbild alevitischer Gemeinschaft. Im Hotel Madɪmak fand das Event statt. Bereits am Donnerstag, dem 1. Juli gab es in Sivas Proteste gegen das Ereignis. Nach dem Freitagsgebet einen Tag später umstellte ein Mob aus Islamisten und türkischen Nationalisten das Hotel und begann lautstark gegen die Teilnehmer zu hetzen. Mehr als acht Stunden dauerte der Gewaltexzess. Das Hotel wurde vom Mob in Brand gesteckt und alle Ausgänge von ihm blockiert. Mehr als 33 Aleviten mussten ihr Leben lassen. Auffallend war, dass die Polizei oder andere staatliche Organisationen innerhalb der acht Stunden mehrfach hätten handeln können, was sie jedoch explizit unterließen und somit implizit an der Gewaltorgie mitschuldig wurden.

Zwei Jahre später, vom 12. bis zum 15. März 1995, wurden Aleviten im Istanbuler Stadtteil Gazi erneut Opfer von Gewalt. Aus einem Kraftfahrzeug wurde mit einer oder mehreren automatischen Waffen das Feuer auf ein alevitisches Lokal in diesem Stadtteil eröffnet. Eine Person starb an Ort und Stelle. In wenigen Stunden kamen Aleviten zusammen und protestierten gegen das Geschehen. Auch in anderen türkischen Städten führten Solidaritätsbekundungen zu Protesten und forderten Opfer auf alevitischer Seite. Während in Sivas die Polizei acht Stunden keinen Handlungsbedarf sah, griff sie in Gazi gewalttätig durch und verstärkte somit den Unmut der Aleviten. Mehr als 17 Personen mit alevitischem Hintergrund starben innerhalb von drei Tagen. Laut verschiedenen Quellen sollen die alevitischen Opfer durch Kugeln der türkischen Polizei getötet worden sein.Footnote 22

Die geschilderten Gewalterfahrungen hatten erheblichen Einfluss auf die Identitätspolitik und Politik alevitischer Organisationen gegenüber dem türkischen Staat sowie innerhalb der alevitischen Gemeinschaft. Die Ereignisse wurden von C.E.M Vakfı und PSAKD fast identisch in die eigene klagereligiöse Tradition im Sinne einer Definition von Elias Canetti verortet.Footnote 23 Eine religionspolitische Kontinuität des alevitischen Kampfes für Gerechtigkeit und gegen Despoten von Kerbela über Sultan Selim bis in die Gegenwart war u. a. der gemeinsame Tenor. Gleichzeitig fällt bei einem spezifischen Fokus auf, dass C.E.M Vakfı und PSAKD die Gewalterfahrungen im breiteren soziopolitischen Kontext unterschiedlich bewerteten.

Erstere sahen in Gazi vor allem einen Angriff gegen den türkischen Staat. Die Ereignisse seien von politischen Akteuren gezielt auf dem Rücken der Aleviten ausgetragen worden, um die Beziehungen zwischen türkischem Staat und der alevitischen Gemeinschaft zu torpedieren. Der PSAKD verwies vor allem darauf, dass Gazi nur ein weiteres trauriges Ereignis sei, das an Sivas erinnere, jedoch unter anderen Voraussetzungen. In beiden Fällen sei es jedoch klar, dass Aleviten die Opfer seien und der türkische Staat entweder durch seine Passivität oder durch überproportionale Gewaltaktivität alevitisches Leben auf dem Gewissen habe. Die politischen Grabenkämpfe konnten bis heute nicht überwunden werden, vielmehr verstärkten sie sich. Vor allem auch, weil in den 1990er-Jahren u. a. in Istanbul auch Cemevi (alevitische Kultur- und Gebetshäuser) auf Entscheid des heutigen türkischen Präsidenten abgerissen wurden und dies bis zur Gegenwart innerhalb der alevitischen Gemeinschaft zu antagonistischen Positionen geführt hat.

Ab 2002 stellte die AKP die Regierung in der Türkei und versuchte, das Verhältnis zu den Aleviten neu zu bestimmen. Ihre Bemühungen um das alevitische Vertrauen reichten so weit, dass man begann, in offiziellen Dokumenten den Begriff „Alevi“ zu benützen. Ebenso anerkannte die AKP als erste Regierungspartei in der Geschichte der Türkei die alevitische Gemeinschaft als ein Kollektiv mit politischen und kulturellen Interessen sowie Zielen an. Vertreter verschiedener alevitischer Organisationen wurden zu offiziellen Staatsempfängen eingeladen und die Einheit in der Vielfalt des Islam beschworen.Footnote 24 Parallel dazu und in Kooperation mit der türkischen Religionsbehörde (Diyanet) und alevitischen Akteuren organisierte die Regierung zahlreiche Workshops, um die Herausforderungen und Bedürfnisse der Aleviten aus erster Hand zu erfahren.Footnote 25 Der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ging so weit, sich selbst als „Alevite“ zu bezeichnen, damit wollte er vor allem die besondere Verehrung und Beziehung der Aleviten zum vierten Kalifen zum Ausdruck bringen.

Auch wenn die alevitischen Organisationen das Angebot der AKP-Regierung und die neue politische Haltung ihnen gegenüber positiv aufnahmen, so waren kritische Stimmen nicht zu überhören. Vor allem aus den Reihen der PSAKD kam die Befürchtung, dass die islamisch-konservative Regierung die Beziehungen zu den Aleviten kappen werde, sobald eine Krise am politischen Horizont erkennbar werde. In der Tat sorgten der Syrienkonflikt und die Gezipark-Proteste dafür, dass die AKP ihre politischen Initiativen gegenüber der alevitischen Gemeinschaft beendete und einen härteren Kurs verfolgte. Von Anfang an forderte Ankara die Absetzung der Assad-Regierung in Damaskus und kritisierte diesen nicht nur für seine diktatorische Herrschaft, sondern auch auf Grund seiner konfessionellen Zugehörigkeit. Anders gesagt, die Außenpolitik gegen das syrische Nachbarland wurde über das Politische hinaus zusätzlich mit religiöser Rhetorik untermauert. Während sich die AKP im syrischen Bürgerkrieg klar gegen Assad positionierte, kritisierte der Chef der Republikanischen Partei (CHP), Kemal Kɪlɪçdaroğlu, Erdoğans politische Haltung und forderte ihn dazu auf, die Türkei aus dem Konflikt herauszuhalten und eine neutralere Position einzunehmen. Die AKP und ihre Führung versuchten daraufhin, Assad und Kɪlɪçdaroğlu als „arabische Alawiten und Aleviten“ gleichzusetzen und öffentlich beide zu diskreditieren.Footnote 26 Sie seien Teil einer größeren Verschwörung von feindlichen Akteuren, die es zu bekämpfen gelte. Auf die Spitze getrieben wurde das Ganze, als der heutige türkische Präsident im Mai 2013 das Selbstmordattentat in Reyhanlɪ verurteilte und explizit nur von sunnitischen Opfern des dschihadistischen Angriffs sprach. Wie später bekannt wurde, fanden auch viele Aleviten den Tod. Einmal mehr bewerteten alevitische Organisationen Erdoğans Aussagen als bewusste Diskreditierung von Aleviten, nämlich Teil einer Gruppe zu sein, die die Türkei von innen heraus schwächen wolle, und verwiesen auf die Zeit der globalen Systemkonkurrenz, als sie mit ähnlichen Argumenten ins politische Abseits gedrängt und parallel dazu Gewalt gegen sie legitimiert wurde. Parallel zu diesen Ereignissen wurden in vielen türkischen Städten alevitische Häuser mit Farbe markiert und viele Organisationen der Aleviten befürchteten größere Pogrome, die jedoch ausblieben.Footnote 27

Auch während der Gezipark-Proteste waren Aleviten u. a. Ziel von Ausgrenzungsrhetorik und Polizeigewalt. Dabei ist anzumerken, dass die Proteste in Istanbul innerhalb der von Aleviten dicht besiedelten Stadtteile stattfanden oder in ihrer unmittelbaren Nähe. Die Ereignisse gehen nicht auf die Initiativen alevitischer Organisationen zurück. Sie ereigneten sich vor allem als zivilgesellschaftlicher Protest gegen den Bau eines Einkaufszentrums, weil Istanbul kaum mehr Grünflächen vorweisen kann. Das rigide Vorgehen der türkischen Polizei in den alevitischen Stadtteilen führte vielmehr dazu, dass mehr als zehn alevitische Opfer zu beklagen waren und letztere sich einmal mehr bestätigt fühlten, gezielt zu Opfern gemacht zu werden. Auch in anderen türkischen Städten gingen Aleviten auf die Straße und hatten dort ebenso Tote zu beklagen. Einmal mehr kam die Kritik auf, dass der türkische Staat kein Interesse an den gesellschaftspolitischen Anliegen der Aleviten habe und einmal mehr versagt habe, wenn es darum ging, alevitische Gemeinden vor Polizeigewalt zu schützen. Deswegen seien die Organisationen dazu angehalten, die Identität, Religiosität, Kultur und politischen Rechte in der Türkei kontinuierlich einzufordern.

3 Religiös-politische Emanzipation der Aleviten ab den 1990er-Jahren in der Diaspora: Fallbeispiel Deutschland

Im transnationalen Raum bzw. der Diaspora finden Einwanderungsgesellschaften grundsätzlich andere politische, wirtschaftliche, kulturelle sowie soziale Verhältnisse vor als in ihren Herkunftsstaaten. Sie sind aber in ihren neuen „Heimatländern“ keineswegs dem Einfluss ihres Ursprungslandes völlig entflohen.Footnote 28 Viele Gemeinschaften in der Diaspora suchen auch explizit die Vernetzung mit ihrem Herkunftsland, um bspw. einem zu stark atomisierenden gesellschaftlichen Inklusionsprozess entgegenzuwirken. Im Falle der alevitischen Einwanderung nach Deutschland im Zuge des Anwerbeabkommens in den 1960er-Jahren war es vor allem das Fehlen von physischen und strukturellen Zwängen, das ihre politische oder wirtschaftliche Emanzipation begünstigte. Aus einer gestärkten und wachsenden Diaspora-Solidargemeinschaft begannen sie im Laufe der 1980er-Jahre, Organisationen zu gründen und aktiv die deutsche Bundes- und Landespolitik – sowie weitere Ebenen – mitzugestalten. Angemerkt sei auch, dass Deutschland bzw. viele seiner Institutionen auch Raum für die Partizipation von Migranten aus der Türkei boten.Footnote 29

Mit Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen sei besonders auf die Bemühungen des deutschen Staates im Rahmen der „Deutschen Islam Konferenz“ (DIK) hingewiesen. Diese politische Initiative der CDU aus dem Jahre 2005 unter besonderer Federführung von Wolfgang Schäuble ermöglichte u. a. der alevitischen Diaspora, sich im deutschen Rechts- und Gesellschaftssystem als eine liberal-religiöse Gemeinschaft zu verorten. Gleichzeitig muss der Einfluss der Türkei über die türkische Religionsbehörde (Diyanet) oder Konsulate in Deutschland mitberücksichtigt werden, der, wenn auch oftmals unter negativen Vorzeichen, die alevitische Einwanderungsgesellschaft zur Gemeinschaftsbildung, Institutionalisierung und Verteidigung ihrer Identität sowie religiösen Tradition anspornt.Footnote 30

Im Kontext der 9/11- sowie post-9/11-Ereignisse und der deutschen Islam-Footnote 31 sowie Leitkultur-Debatte waren viele muslimische Organisationen angehalten, eine Position zu beziehen und ihre politische Kooperationsbereitschaft sowie Anerkennung liberaldemokratischer Werte und weltlicher Institutionen öffentlich kundzutun. Gleichzeitig leiteten die oben genannten Prozesse eine Entwicklung ein, dass der von der Türkei geförderte sunnitische Islam in Deutschland, vor allem über die DITIB, keineswegs mehr mit einer Politik des Desinteresses rechnen konnte. Letzteres, weil der türkische Islam in der Bundesrepublik (noch) die dominierende Tradition des Islam darstellt. Darüber hinaus spielte die türkische Einwanderungsgesellschaft immer mehr eine wichtige Rolle bei türkischen Wahlen und Teile davon wurden zu einem neuen Träger neoosmanischer Politiken. Gemeinsame Auftritte von türkischen Politikern, Vertretern der Diyanet und DITIB können deswegen durchaus die Integrationspolitik der Bundesrepublik öffentlich torpedieren. Hinzu kommt auch der Reiz gegenwärtiger Radikalisierungsprozesse im Kontext des Islamismus und Jihadismus, dass alevitische Organisationen stärker in die politische Öffentlichkeit drängen und ihre religiöse Tradition, im Vergleich zu den 1980er sowie 1990er-Jahren, im Gegensatz zum sunnitisch-türkischen Islam noch stärker hervorheben.Footnote 32

Ersichtlich wird dieser Prozess der Distanzierung sowie Emanzipierung vor allem in den Kommunikationsmedien der Aleviten selbst. Bspw. wird in der alevitischen Zeitschrift „Alevilerin Sesi“ (Alevitische Stimmen) von 2009 festgehalten,Footnote 33 dass die AABF auf Grund einer Entscheidung des Landesgerichts in Wuppertal als einzige Institution in der Bundesrepublik die Begriffe „alevitische Gemeinde“ führen und deutschlandweit als politischer Vertreter der in Deutschland lebenden Aleviten fungieren darf. Auch wird im gleichen Artikel darauf verwiesen, dass C.E.M Vakfı laut diesem Urteil die Begriffe „alevitische Gemeinde“ nicht führen darf. In Deutschland, so Eser Polat (Gremiumsmitglied der AABF), würden AABFFootnote 34 und „alevitische Gemeinschaft“ synonym füreinander stehen. In seiner Stellungnahme kommen die veränderten Realitäten für Aleviten und Konfliktfelder, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen, ans Tageslicht. Keineswegs darf das Interesse der AABF daran, die Gesamtheit der Aleviten in Deutschland zu vertreten sowie als einzige Organisation den Begriff „alevitische Gemeinde“ führen zu dürfen, als eine einfache politische Initiative verstanden werden. Es geht dabei nicht nur um die Vertretung und damit zusammenhängend auch die politische Deutungshoheit über das Alevitische selbst, auch müssen die Grabenkämpfe zwischen der Diyanet – vertreten durch DITIBFootnote 35 – sowie mit dem türkischen Staat sympathisierenden alevitischen Vereinigungen – wie C.E.M Vakfı – und dem AABF in den Blick genommen werden. Während die Aleviten in der Türkei bis in die Gegenwart keine Chance haben, vom Staat als eine unterschiedliche oder eigene Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden, setzt sich die AABF in Deutschland u. a. dafür ein, dass Organisationen, die die religiösen und politischen Interessen der Türkei vertreten, ihren Einfluss in der Diaspora nicht verstärken können. Auch sollte nicht vergessen werden, dass sich die türkischen Religionsverbände 2005 explizit gegen eine Teilnahme der AABF in der DIK geäußert hatten.Footnote 36 Mit Blick auf zukünftige Entwicklungen ist nicht zu erwarten, dass sich diese Herausforderungen rasch auflösen werden.

Gleichzeitig begünstigt die deutsche DIK-Initiative – abgesehen davon, Widerstand gegen die türkische religiöse Vereinnahmung zu üben – einen religiösen Homogenisierungsprozess, der die Aleviten selbst zu einer Vereinheitlichung auffordert. Letzteres wird auch von Aleviten selbst forciert und hängt natürlich auch damit zusammen, dass der Wunsch, Anerkennung im Sinne einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen, damit verbunden ist, einheitliche Quellen u. a. für rituelle Zeremonien oder religiöse Curricula an Schulen zu entwickeln. Zugespitzt formuliert, jede religiöse Gemeinschaft bzw. eine Gemeinschaft, die sich auch religiös definiert, baut u. a. auf einer Verstrickung von drei wichtigen Elementen auf: Text/orale Überlieferung, Ritual/Praxis und Erinnerung/Gedächtnis. Diese werden von der alevitischen Gemeinschaft explizit nach innen und außen kommuniziert. Im Folgenden sollen diese Elemente anhand von Praxisbeispielen kompakt erläutert werden.

In Deutschland verknüpft die alevitische Gemeinschaft ihre Historie bzw. ausgewählte Aspekte ihrer Geschichte größtenteils im positiven Sinne mit der Bundesrepublik. Um Missverständnissen vorzubeugen, es geht hierbei nicht um die individuelle Erinnerung, sondern um das historische Narrativ oder Narrative, die die AABF mit Blick auf die gegenwärtigen Bedürfnisse ihrer Organisation (also sich selbst) und liberaldemokratischen Anforderungen der Bundesrepublik (an die AABF) aufnimmt, weglässt oder neu interpretiert. Das Gedächtnis wird u. a. unter dem Druck bzw. der Herausforderungen einer bestimmten Gegenwart ausgelegt. So wird betont, dass Aleviten ein humanistisches Weltbild vertreten und eine Anlehnung oder sogar Übernahme des deutschen Grundgesetzes keineswegs, weder mit Blick auf ihre Textquellen noch mit Blick auf die rituelle Praxis, zu einer Disposition, wie bei einigen islamischen Gruppierungen, führen würde.Footnote 37 Vielmehr hätte das humanistische Weltbild der Moderne bereits im Denken und in den Lehren der wichtigsten alevitischen Autoritäten einen signifikanten Platz eingenommen und wäre somit ein Teil der alevitischen Tradition und keine Herausforderung.Footnote 38

In einem Beitrag aus „Alevilerin Sesi“, der 2006 veröffentlicht wurde, geht der ehemalige Präsident des Glaubensrates der AABF Cafer Kaplan (2009–2015) auf ein wichtiges, oben schon hingewiesenes Element ein: Er verweist explizit darauf, dass die unterschiedlichen Rituale/Praxen von Gottesdienst, Gebet oder Andacht in den verschiedenen alevitischen Gemeinden in Deutschland immer wieder für Verwirrung sorgen. Kaplan plädiert für einen allgemein gültigen verschriftlichten Ablauf der „Cem“-Zeremonie und der „Erkan“ (Handlungsweise/Durchführung), damit die Geistlichen, genannt „dedes“ (Großväter), in den vielen Gemeinden eine einheitliche Vorgehensweise befolgen. Darüber hinaus fordert Kaplan, dass alle Mitgliedervereine befragt werden, ob ein „dede“ in ihren Räumlichkeiten die Zeremonien abhält. Dadurch wäre es für das Glaubensgremium des AABF leichter ausfindig zu machen, in wie vielen alevitischen Gemeinden ein „dede“ zur religiösen Begleitung zur Verfügung steht. Es sollen vor allem „dedes“ in den Gemeinden tätig werden, die dem Glaubensgremium der AABF angehören und somit auch die Interessen der Organisation vertreten. Letzteres wäre für das Wachsen der Organisation (gemeint ist die AABF) und ihrer religiösen Ziele besonders wichtig, damit es zu keinen Loyalitätskonflikten komme. Eine Gefahr bestünde darin, dass „dedes“, die der AABF nicht angehören, von der AABF abweichende religiöse Inhalte vermitteln könnten. Im Gegensatz dazu würde, laut Kaplan, eine einheitliche religiöse Unterweisung der „dedes“ sicherstellen, dass in allen alevitischen Gemeinden ein gemeinsamer Ritus abgehalten und gemeinsame Inhalte vermittelt werden.

Der ehemalige Vorstand des alevitischen Glaubensrates, Hasan Kɪlavuz, unterstreicht die Aussagen von Kaplan mit Blick auf die „semah“.Footnote 39 Der rituelle Tanz der Aleviten zum Gottgedenken sei von besonderer Signifikanz. Gleichzeitig sei es unmöglich zu übersehen, dass jede alevitische Gemeinde eine eigene Trachtentradition hätte und viele Aleviten ihre „semah“-Kleidung auch in ihrer Freizeit und in Discos tragen würden. Eine solcher Zustand könne seitens der Organisation (AABF) nicht hingenommen werden. Die Gemeindemitglieder müssten seitens der Organisationsführung und darüber hinaus mit zur Verfügung stehenden Kommunikationskanälen informiert werden, dass es eine einheitliche „semah“-Kleidung geben solle. Ebenso führt Kɪlavuz aus, dass die rituelle „semah“-Kleidung alevitische Symbole und daneben Bilder von alevitischen Heiligen bzw. von Aleviten verehrten Heiligen auf derselben tragen sollte.Footnote 40

Die oben vorgestellten Entwicklungen verdeutlichen den politischen sowie religiösen Emanzipationsprozess der Aleviten in Deutschland der letzten Jahrzehnte. Mit Blick auf die in der Einleitung vorgenommene Diaspora-Definition treffen sowohl b und c zu. Die AABF unternimmt explizit den Versuch, außerhalb der Grenzen Deutschlands eine Vorbildfunktion einzunehmen und die Nützlichkeit einer gewissen Vereinheitlichung in der Tradition akzeptabel zu machen. Gleichzeitig darf nicht der Eindruck entstehen, dass die alevitische Diaspora in der Bundesrepublik seit ihrer Einwanderung in den 1960er-Jahren zugleich an ihrer politischen und religiösen Mündigkeit zu arbeiten begann. Ganz im Gegenteil, auch wenn in Deutschland die politischen Umweltbedingungen für einen Aufbau alevitischer Gemeinden von Anfang an auf fruchtbaren Boden fiel, zeigt die zögerliche Haltung der Aleviten, im öffentlichen Raum als Vertreter einer wenig sichtbaren alevitischen Gemeinschaft und Tradition hervorzutreten, dass sie sich auch von aus der Türkei mitgebrachten politischen und ideologischen Verstrickungen erst befreien mussten.Footnote 41

Immer noch findet sich die Überzeugung innerhalb alevitischer Gemeinden, dass Mustafa Kemal Atatürk und dessen Kulturrevolution eine klassenlose Gesellschaft in der Türkei zum Ziel hatte und nach seinem Tod vor allem von seinen Erben in der CHP und von den Islamisten bewusst demontiert worden sei. Auch wird diese Überzeugung davon begleitet, dass Atatürk von den Massakern an Aleviten in Dersim nicht gewusst haben konnte. Ob sich diese politischen Behauptungen in Zukunft halten können werden, ist fraglich. Vor allem durch neuere Forschungen und Quellen zu den Ereignissen in Dersim wird immer mehr deutlich, dass der Republikgründer von den Massakern wusste und sie sogar befohlen hat.Footnote 42 Die Verbundenheit der Aleviten mit Atatürk war ein Grund für ihre Zurückhaltung, auf deutschem Boden politisch in eigenen Organisationen hervorzutreten.

Parallel dazu gilt es auch die Verstrickungen mit dem linken und kurdisch-nationalistischen Spektrum in den Blick zu nehmen. Die Bundesrepublik bot den MigrantInnen aus der Türkei einen politisch offenen Raum, der ihnen in der ehemaligen Heimat nur bedingt zugestanden worden ist. Nicht nur Aleviten, sondern auch Anhänger der islamistischen Milli GörüşFootnote 43 konnten sich neu formieren. Beide Gruppen wollten auf Grundlage ihrer politisch-ideologischen Überzeugungen Einfluss auf ihr Heimatland nehmen und aus dem Ausland einen Transformationsprozess oder eine neue Kulturrevolution zu ihren Gunsten in Gang setzen. In gewisser ideologischer Übereinstimmung mit kemalistischen Ordnungsvorstellungen forderten auch türkisch-marxistische Gruppierungen in der Türkei und Deutschland eine klassenlose Gesellschaft. Ihrer politischen Möglichkeiten nicht bewusst oder etwas misstrauisch gegenüber dem neuen Heimatland organisierten sich Aleviten in sozialistischen und linken Parteien. Ihre Identität und Religiosität gerieten dadurch auch in der Bundesrepublik eher in den Hintergrund.Footnote 44

In diesem Zusammenhang spricht Sökefeld davon, dass Aleviten sich ganz bewusst als Nicht-Aleviten (Takiye) ausgewiesen hätten. Eine solche generelle Aussage für die Haltung von Aleviten zu treffen, bringt verschiedene Herausforderungen mit sich. Aus heutiger Sicht kann eine solche Aussage nur bedingt empirisch überprüft werden. Aleviten in Österreich und Deutschland sowie anderen europäischen Ländern verweisen bspw. auf social media-KanälenFootnote 45 darauf, dass sie nach ihrer Migration zur Stärkung und Erhaltung ihrer Gemeinschaft u. a. eine gezielte Heiratsvermittlung unter ihren jungen Erwachsenen realisiert hätten.Footnote 46 Es spricht einiges dafür, dass Aleviten ihre Identität und Religiosität nicht völlig dem Politischen geopfert haben. Eine detaillierte Analyse der Gründung alevitischer Solidargemeinschaften in der Diaspora auf Grundlage von religiösen sowie sozialen Interaktionen wäre gegenwärtig mehr als notwendig und würde wahrscheinlich auch aufzeigen, dass der Emanzipationsprozess der Aleviten von kemalistischen oder linken Gruppen früher zu verorten ist als bisher angenommen.Footnote 47

Für den Prozess der Distanzierung gegenüber türkisch-islamischen sowie kemalistischen und marxistischen Gruppen machen sie vor allem deren Versäumnis verantwortlich, Gewalttaten in der Türkei in den 1970er oder 1980er-Jahren sowie viele weitere als explizit gegen Aleviten gerichtete Mordexzesse auszuzeichnen. Parallel dazu verfolgte bspw. die PKK eine Politik, die die Identität und Religiosität der Aleviten nicht explizit betonte oder wachsen ließ. Beides zusammengenommen, und hier ist Sökefeld zuzustimmen, führte dazu, dass für viele Aleviten Ende der 1970er-Jahre bis zur Gegenwart die politische Attraktivität türkisch-kemalistischer Parteiableger, wie etwa die HDF (Föderation revolutionärer Volksvereine), sowie linker oder marxistisch-nationalistischer Gruppen, wie etwa Dev Yol (Revolutionärer Weg) oder die PKK, kontinuierlich verloren ging.Footnote 48 Zur politischen Entzauberung der genannten Ideologien und Überzeugungen trug auch das Ende des Kalten Krieges bei und die Ende der 1990er-Jahre aufkommende Debatte um Multikulturalismus, Islamismus sowie Leitkultur.Footnote 49

Aleviten in Deutschland wurde offensichtlich bewusst, dass sie vor allem als eine Organisation ihre Ziele realisieren können. Gerade in der Diskussion um die sogenannte Leitkultur konnten die offiziellen Vertreter der AABF die Gemeinschaft als tolerante Gläubige mit Wurzeln innerhalb des Islam repräsentieren. Turgut Öker, ehemaliger Präsident der AABF und gegenwärtiger Präsident des AABKFootnote 50, macht explizit darauf aufmerksam, dass die Vorteile, zu einer Organisation zu werden im Sinne einer (staatlichen) Institution und mit einer klaren Aufgabenteilung, die Identität und Religiosität stärken würde. Ebenso würde der Einfluss von außen, ohne dabei explizit hervorzutreten, verringert werden.Footnote 51 Beispielsweise nennt er die religiöse Ausbildung von „dedes“ und „anas“ (Geistliche und Frauen) als eine Option, die die Identität und Religiosität stärken würde. Darüber hinaus empfiehlt er den interreligiösen sowie innerreligiösen Dialog, den die alevitische Organisation führen sollte, damit sie die politischen Entwicklungen mitbestimmen könne. Mit Blick auf den innerislamischen Dialog ist es nicht ganz klar, welche Strategie mit Blick auf die Türkei befolgt werden soll. Auch tragen gegenwärtige Gewalt- und Exklusionserfahrungen der Aleviten in der Türkei dazu bei, dass die Diaspora-Aleviten mit Nachdruck auf die Lage ihrer Gemeinschaft außerhalb Deutschlands hinweisen und in ihrer neuen Heimat durch politisches Engagement die Regierung in Ankara unter Druck setzen wollen.

4 Zusammenfassung

Das Zusammenspiel von türkischem Nationalismus und Islamismus gepaart mit der globalen SystemkonkurrenzFootnote 52 und dem Antikommunismus führte dazu, dass die Aleviten aufgrund ihrer Nähe und Distanz sowie unkonventionellem Zugang zur Religion, insbesondere mit Blick auf den sunnitischen Islam, dem Vorwurf ausgesetzt waren, leichter für marxistisch-materialistische Gesellschaftsordnungen begeistert werden zu können. Gleichzeitig wurden sie auch mit der Tradition der „Hermeneutik des Verdachts“ konfrontiert, dass ihre synkretistische Religiosität Häresien leichter möglich machen und sie somit auch ohne politischen Einfluss von außen Gesellschaftsstrukturen aller Art gefährden würden. Die Exklusivität der türkischen Identität im Kontext sunnitisch-islamischer und ethnisch-türkischer Diskurse lässt eine Inklusion nur über völlige Assimilation zu. Perspektiven, dass sich dieser staatszentristische Homogenitätsdiskurs abschwächt oder auflöst, sind kaum in Sicht. Während Aleviten sich mit den soeben formulierten Herausforderungen und Anschuldigungen in der Türkei konfrontiert sahen, waren sie in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1960er-Jahren keinen religiösen Beschuldigungen oder politischen Vorverurteilungen ausgesetzt. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft interessierte sich eher wenig für die neu eingewanderten „Gastarbeiter“. Ebenso brauchten Aleviten in den Reihen kemalistischer oder linker Organisationen in der Bundesrepublik keine Repressalien seitens staatlicher Institutionen befürchten. Vielmehr ermöglichte ihr neues Heimatland im Herzen Europas, dass sie ihre Gedächtnistradition, Rituale und Texte oder orale Überlieferung uneingeschränkt und öffentlich erforschen, elaborieren und leben konnten.

Wie bereits im Artikel kritisch angemerkt, fehlen noch detaillierte Untersuchungen zu den alevitischen Gemeinschaften von den 1960er bis zu den 1990er-Jahren in Deutschland, insbesondere zu der Frage, ob die Distanzierung und der Rückschluss auf „reine“ alevitische Traditionen nicht schon früher eingesetzt haben als u. a. von Sökefeld datiert. Unabhängig davon können wir davon ausgehen, dass die politischen Freiheiten in der Bundesrepublik Aleviten relativ rasch ihre Möglichkeiten vor Augen führten. Sie kritisierten nicht nur als Mitglieder der CHP-Ableger in Deutschland die türkische Haltung bzw. Passivität des türkischen Staates, die Gewaltexzesse gegen ihre Gemeinschaft auf anatolischem Boden in den 1970er, 1980er oder 1990er-Jahren einzuschränken, sondern sie versuchten auch, über Bonn (später Berlin) die Türkei zu beeinflussen, strafrechtlich gegen die Täter vorzugehen. Wenn auch Letzteres keinen wirklichen Erfolg brachte und gegenwärtig wieder Hetzkampagnen in Izmir und anderen Städten gegen Aleviten stattfinden. Somit erfüllt sie eine für Diaspora-Gemeinschaften ausgewiesene Handlungskategorie der u. a. politischen Einflussnahme auf ihr Ursprungsland mit Rückgriff auf die politischen Möglichkeiten in der neuen Heimat.

Auch zeigt das deutsche Fallbeispiel, dass die Aleviten die rechtsstaatlichen Voraussetzungen im Anerkennungsprozess als Körperschaft des öffentlichen Rechts als eine positive und notwendige Bedingung verbuchen, die sie auf organisatorischer Ebene stärken und ihnen die Möglichkeit bieten, ihren Einfluss auf die türkische Religionsbehörde (Diyanet) sowie ihre deutschen Ableger oder andere Institutionen erheblich zu erhöhen und ihre Interessen bestmöglich zu vertreten. Auch deswegen wollten sie Teil der DIK werden, um somit aktiv am Gesprächstisch mit Islamverbänden und deutschem Staat direkt verhandeln zu können. Denn auch in Deutschland wollen Vertreter der türkischen Religionsbehörde die Deutungshoheit über die Aleviten in ihre eigene Hand nehmen. Diese Auseinandersetzung wird die AABF noch länger führen müssen.

Gerade die im Artikel festgehaltenen Beispiele zeigen auch, dass ein gewisser Vereinheitlichungsprozess mit Blick auf das Ritual und damit auch verbundene Texte sowie das Gedächtnis die Ernsthaftigkeit der Aleviten im Umgang mit ihrer Tradition untermauert. Ähnliche Entwicklungen sind derzeit in der Türkei nur bedingt realisierbar, vor allem weil der türkische Staat alevitisches Gedächtnis, Texte oder Rituale innerhalb von ihm vertretener Parameter einbetten will und somit eine eigene alevitische Entwicklung nur im Konsens mit sunnitischer Tradition befürwortet. Somit wäre die wichtige Ritualpraxis des Cem nicht mehr oder weniger als ein gemeinsamer Gesprächsabend ohne religiösen Mehrwert. Wollen Aleviten als religiöse und politische Gemeinschaft weiterhin ernst genommen werden, so werden sie nicht umhinkommen, in Deutschland weiterhin auf dem politischen Parkett mehr als aktiv zu sein, und gleichzeitig auch außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik dafür sorgen müssen, alevitische Organisationen für gemeinsame Zielsetzungen zu gewinnen.