Angeregt durch die Situation gegenwärtigen Komponierens mit ihren z.T. kompositionsästhetisch polaren Ergebnissen, eröffnen die Positionen eine Diskussion mit jungen Komponisten. Es soll darin um das für und wider des musikalischen Kunstwerks (im traditionellen Sinne) gehen und um dessen Zukunft oder Zukunftlosigkeit im Selbstverständnis dieser Komponisten. Denn es scheint, als ob der Spielraum kompositorischer Ideen und Wertvorstellungen zwischen musikalischem Gehalt und musikalischer Gestalt, zwischen Ausdruck und Ausdruckslosigkeit, zwischen Material und Technik in der Auseinandersetzung um die Werkgestalt einen neuen brisanten Konzentrationspunkt gefunden hat. Feiern wir die Restauration des Kunstwerks als musikalisches Ganzes, In-sich-Geschlossenes oder dessen Auflösung? Und was bedeutet diese Auflösung für die Musik, in was für Vorstellungs- und Empfindungswelten führt sie? Das ästhetische Denken gerade junger Komponisten darüber scheint uns deshalb besonders aufschlußreich, weil sie am Ende des 20. Jahrhunderts nicht nur in die inzwischen konstituierte Grenzsituation zwischen europäischer und amerikanischer Moderne hineingeboren sind und ihre Entscheidungen anders treffen müssen als Generationen vor ihnen. Sondern wir hoffen auch, daß sich - wie in allen jungen Generationen zu jeder Zeit - auch heute das unerwartet Neue, nicht Absehbare, also das musikalisch und ästhetisch Andere, Spannende hier erneut Bahn bricht.
Gisela Nauck (Mai 1995)
An ihrer Oberfläche erscheinen beide Werke durchaus ähnlich: vielschichtig und bis zum Äußersten differenziert. Wer käme beim ersten Hören schon auf die Idee, daß das eine vollständig im Sinne der "integralen Reihentechnik" determiniert wurde, während das andere durch Befragung des altchinesischen Orakelbuches "I Ging" entstanden ist?
Bevor ich nun selbst Stellung beziehe, möchte ich versuchen, die Charakteristika eines Kunst-WERKES und seiner Antithese - dem PROZESS - herauszuarbeiten.
"Im Platon habe ich gelesen, daß 'Nomos' (Gesetz) auch die Bezeichnung für 'Weise' (Melodie) war".[1]
Die zeitliche Ausdehnung eines PROZESSES ist zumeist unbestimmt (im Unterschied zum exakt determinierten WERK). Seine formale Erscheinung ist vage und - "offen": das feste Beziehungsgefüge des WERKES wird zugunsten einer mehr oder weniger expliziten "Losigkeit" (Morton Feldman) fallengelassen. Während sich WERKE dank ihrer Geschlossenheit und textuellen Eindeutigkeit hervorragend reproduzieren lassen (was dem bürgerlichen Konzertbetrieb entgegenkommt), verweigern sich PROZESSE dieser Verdinglichung: sie erscheinen einmalig und jedes mal anders, neu.
Die Hauptmerkmale von WERK und PROZESS lassen sich folgendermaßen gegenüberstellen:
Werk | Prozeß |
geschaffen | verursacht |
gestaltet | generiert |
geschlossen | offen |
endlich | unendlich |
reproduzierbar | irreproduzibel |
ziel-orientiert | weg-orientiert |
Ich möchte nun die These aufstellen, daß es reine WERKE ebensowenig
gibt wie reine PROZESSE. Was ich soeben beschrieben habe, sind Idealformen, die
unter Laborbedingungen isolierbar sind, in der irdischen Realität jedoch
nicht vorkommen können. Zwei Ursachen sind dafür verantwortlich zu
machen: system-immanente und wahrnehmungs-psychologische. Im Folgenden
möchte ich nun aufzeigen, daß einerseits Werke mit Prozessen
konvergieren, und umgekehrt.
"Die Fülle der ins Material zurückverschobenen Relationen (...) scheint auf Kosten der Fülle des eigentlichen Komponierens zu gehen. Harmonisierung und Polyphonie werden dem klanglichen Phänomen nach immer ärmer, auch die rhythmischen Gestalten kahler, unplastischer, monoton fast aus starren Notenwerten gefügt. Wer nicht wüßte, was an Kompositionsvorgängen und Modifikationen in diesen Stücken sich abspielt, schöpfte den Verdacht des Mechanischen." [3]
Einige Jahre später machte György Ligeti eine ähnliche Beobachtung, als er in seiner Kritik an der seriellen Musik den "Umschlag allzu fortgeschrittenen Differenzierung ins Indifferente" [4] konstatierte.
Hervorgerufen wird dieser Umkippeffekt durch ein lebensnotwendiges Regulativ unserer Wahrnehmung: bei struktureller Überorganisation kann die Fülle von Information nicht mehr kognitiv verarbeitet werden. Dies führt zu einem Umschlagen von Ordnung in Beliebigkeit und somit zu einem Zustand, den wir als Unordnung empfinden. Darin konvergiert das WERK mit dem PROZESS. Dieser Umstand wurde freilich von manch wachem Komponisten - lange vor Ligetis scharfsinniger Analyse - selbst erkannt. Er führte etwa bei Gottfried Michael Koenig zur Substituierung von seriellen Ordnungsmechanismen durch aleatorische Auswahlprinzipien - und damit zur Auflösung des Reihendenkens [5]. Durch die bewußte Anwendung von Zufallsoperationen konnte paradoxerweise gerade das gerettet werden, was die "integrale Reihentechnik" preisgegeben hatte: intendierter Ausdruck und die tatsächliche Verfügbarkeit über die kompositorischen Mittel.
"Jede Art der mit allgemeiner Vorformung arbeiteten Methoden, welche Direktiven auch immer angewandt werden, produziert auf der Ebene der erklingenden Musik außer der Isolation der Einzelmomente auch Zusammenhänge, die von der jeweiligen Methode nicht intendiert waren, sich im Ergebnis gleichsam von selbst einstellen" [7].
Ich möchte deshalb für eine neue Sichtweise plädieren, die WERK und PROZESS nicht als Widersacher gegeneinander ausspielt, sondern die Polarität dieser beiden Wesensformen in sich vereint. WERK und PROZESS ließen sich demnach - ganz im Sinne des seriellen Denkens - als Extremwerte auffassen, zwischen den vielfältige Zwischenstufen und Übergangsformen denkbar sind.
So gibt es in meinem eigenen Schaffen neben Kompositionen, die als "offene Prozesse" konzipiert sind (wie zum Beispiel das Sprechstück In the Cage) auch "strenge Werke" (etwa das Streichquartett Helix 1.0). Dazwischen finden sich alle Arten von Übergängen und Hybriden: Werke mit Prozeßcharakter (wie Entsagung) und Prozesse mit Werkcharakter (Lexikon-Sonate). Der Grad von Werk- bzw. Prozeßhaftigkeit verschiebt sich von Komposition zu Komposition - oftmals auch innerhalb eines Stückes.
Damit möchte ich an den Begriff des "Offenen Kunstwerkes" anzuknüpfen, den Umberto Eco Anfang der 60er Jahre geprägt hatte. Offene Kunstwerke sind demnach:
Auch wenn sich Eco's Konzept des "Offenen Kunstwerkes" in erster Linie auf geschlossene WERKE bezieht, die durch ihre Komplexität vielfältige Lesarten erlauben und so den Betrachter zum Mitschöpfer machen, möchte ich ihn auch auf offene PROZESSE ausdehnen; und zwar auf solche, die es dem Hörer aufgrund ihres inneren Reichtums ermöglichen, Sinnbezüge und Relationen zu "konstruieren", wodurch sie wiederum Züge von Werkhaftigkeit annehmen.
Ein solches "Offenes Kunstwerk" ließe sich als unbekannte Landschaft beschreiben, die den Rezipienten zu eigenen Erkundungsmärschen einlädt. Eine "terra incognita", durch das sich ein Netzwerk von Wegen zieht. Entlang dieser Pfade (und auch abseits davon) gibt es Mannigfaches zu entdecken. Und doch ist der Besucher nicht völlig auf sich gestellt: immer wieder findet er Orientierungsmarken und Wegweiser, Fluchtpunkte und Richtungspfeile. Das bereits Erlebte wird bestimmend für den weiteren Verlauf der Reise - die Fortführung eines Weges wird fallengelassen, weil sich vielleicht am Horizont eine Fata Morgana ankündigt, der nachgespürt werden will.
Anstelle von eindeutigen, linearen Lesarten wäre ein solches "offenes Kunstwerk" prinzipiell vieldeutig und seiner Struktur nach einem Hypertext vergleichbar. Weil darin verschiedene Vorgänge gleichzeitig ablaufen, die der Rezipient - wahrnehmend - aufeinander bezieht und interpretiert, ist er zu einem ständigen Springen zwischen den verschiedenen Sinnebenen ("Mille plateaux"[9]) herausgefordert. Ein Vorgang, der auch beim oftmaligen Hören immer anders ausfallen kann, wie bei einem Vexierbild, dessen Ebenen je nach Blickwinkel hin- und herspringen. Erst im aktiven Vorgang des Betrachtens entsteht so - in einem zeitlichen Abtastvorgang - eine persönliche, erlebte "Fassung" des Werkes.
Benutzeroberfläche der Lexikon-Sonate
vs. 3.2 (11 Jan 2007)
Clickable Map: Mit einem Doppelklick auf eines der Kästchen (z.B. "Esprit")
erhält man weitere Informationen über dieses Strukturgenerator und außerdem noch ein Hörbeispiel.
Die Lexikon-Sonate ist nicht reproduzierbar. Sie erscheint ungerichtet
und "offen" - als typischer PROZESS. Dennoch besitzt sie Eigenschaften eines
WERKES. Es gibt charakteristische, wiedererkennbare, formbildende Momente, die
durch 24 verschiedene Programmodule hervorgebracht werden. Jedes davon erzeugt
eine charakteristische musikalische "Gestalt", in unendlichen Varianten. Die
strukturelle Definition dieser "Gestalten" ist klar umrissen; dennoch werden
sie an ihren Rändern unscharf und können sich dort in einen anderen
Typus verwandeln.
Als Beispiel sei ein Akkordgenerator genannt, der unter gegebenen Umständen auch einstimmige Akkorde (was für eine herrliche Paradoxie!) spielen kann, wodurch der Akkord mit der Melodie konvergiert. Oder ein Trillergenerator, der das traditionelle Trillermodell (rasches Alternieren zweier benachbarter Skalentöne) erweitert, indem er bis zu 8 Töne rasch permutiert, wodurch sich (je nach Art dieser Töne) Konvergenzen mit Akkordzerlegungen bzw. -figurationen oder (je nach Trillertempo) mit Melodien einstellen.
MAX-Programm eines Trillergenerators (1993-95)
Ein weiterer Aspekt in Hinblick auf Werkhaftigkeit besteht darin, daß die
generierten Modellvarianten Allusionen an bereits existierende Musik
hervorrufen können. Ohne daß irgendwelche Zitate eingesampelt
wurden, erinnert sich die Musik gleichsam an Topoi aus dem Fundus der
Klaviermusik von Johann Sebastian Bach über Beethoven, Schubert,
Schönberg, Webern, Boulez, Stockhausen bis hin zu Cecil Taylor. Diese
Topoi wurden strukturell analysiert und als Algorithmen implementiert, die -
mit Hilfe von Zufallsoperationen innerhalb vorgegebener Grenzen - unendliche
viele Varianten synthetisieren können.
In der Lexikon-Sonate laufen immer mehrere Strukturgeneratoren parallel, lösen sich ab und verschwinden wieder, um neuen Modellen Platz zu machen. Dabei durchdringen sie sich und bilden übergeordnete Meta-Strukturen, die vieldeutig und gerichtet zugleich erscheinen. Und wie in einem Lexikon verweisen die unzähligen "Artikel" aufeinander, damit einen musikalischen Hypertext bildend, in dem sich der Hörer verlieren und sich selbst begegnen kann.
Mit der Lexikon-Sonate habe ich ein radikales Beispiel für das "Offene Kunstwerk" vorgeführt, daß gänzlich auf das verzichtet, was ein Werk im emphatischen Sinne charakterisiert: textuelle Geschlossenheit und damit Notation. Gleichwohl lassen sich gänzlich andere "Operativprogramme" (Eco) denken und erfinden, in denen die unerschöpfliche und reiche Dialektik von WERK und PROZESS einen fruchtbaren Niederschlag findet. Es liegt nun an den Komponisten selbst, diese Möglichkeiten ästhetisch einzulösen.
[2] John Cage, Composition as Process (1958); in: ders., Silence (London 1978), S. 18 ff.
[3] Theodor W. Adorno, Anton von Webern (1959); in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 16, (Frankfurt/Main 1978), S. 122.
[4] György Ligeti, Form (1966); in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, hrsg. von Ernst Thomas, Bd. X: "Form in der Neuen Musik", (Mainz 1966), S. 28.
[5] cf. Gottfried Michael Koenig, Aleatorische und serielle Verfahrensweisen in der Elektronischen Musik (1965); in: Gottfried Michael Koenig, Ästhetische Praxis, hrsg. von Stefan Fricke und Wolf Frobenius, Bd. 2 (Saarbrücken 1992), S. 300 ff.
[6] cf. Karlheinz Essl, Kompositorische Konsequenzen des Radikalen Konstruktivismus (1992); in: Positionen, hrsg. von Gisela Nauck, Bd. 11 - "Mind Behind" (Berlin 1992), S. 2-4.
[7] Ligeti, Form, a.a.O, S. 33.
[8] Umberto Eco, Das Offene Kunstwerk (1962), dt. von Günter Memmert (Frankfurt/Main 1577), S. 57.
[9] cf. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Mille plateaux (Paris 1980).
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Updated: 13 Aug 2021