Die 1920er-Jahre sind nicht erst seit dem Jahreswechsel wieder in aller Munde. Das Gründungsjubiläum der Ersten Republik trug ebenso dazu bei, wie das Erstarken von populistischen Strömungen in Europa und die zunehmende Angst vor einer Rezession. Außerdem haben auch popkulturelle Phänomene – wie etwa die TV-Serie Babylon Berlin oder die neue unplugged CD von Max Rabe das Interesse an den 1920er-Jahren weiter erstarken lassen. In all diesen Fällen geht es um die Frage, inwieweit sich Geschichte wiederholen kann und ob wir nach den neuen 20er-Jahren dann auch mit neuen 30er- und 40er-Jahren rechnen müssen.

Religion spielt in diesen Debatten interessanterweise kaum eine Rolle. Dabei lassen sich zwischen der aktuellen Situation und den Zwischenkriegsjahren erstaunliche Parallelen feststellen. Zu diesem Eindruck kommt zumindest ein Projekt zur "religiösen Vielfalt an Wiener Schulen der Zwischenkriegszeit", das gegenwärtig von dem Religionswissenschaftler HS-Prof. Dr. Karsten Lehmann und der Religionswissenschaftlerin Alexandra Katzian, BA. MA. am Spezialforschungsbereich ‚Interreligiosität’ der KPH – Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien / Krems durchgeführt wird.

Allererste Ergebnisse aus diesem Projekt sollen nun kurz vorgestellt werden. Außerdem bitten Katzian und Lehmann um die Unterstützung der Leserinnen und Lesern des STANDARD-Religionswissenschaftsblogs. Sie suchen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen muslimischen Glaubens, die in der Zwischenkriegszeit auf eine Wiener Schule gegangen sind und die sich für ein Interview bereiterklären würden.

Projekt: Religiöse Vielfalt an Wiener Schulen 1918-1938

Das Projekt zur religiösen Vielfalt an Wiener Schulen läuft an der KPH Wien / Krems bereits seit März 2018. Initiiert wurde es von Frau Dr. Edith Petschnigg, die in den folgenden Monaten eine Vielzahl von Interviews mit ganz unterschiedlichen christlichen und jüdischen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt hat, aber auch mit Menschen ohne religiösem Bekenntnis.

Im Hintergrund steht dabei die Beobachtung, dass in den letzten Jahrzehnten bereits vielfältige Studien über Schulpolitik, Unterrichtswesen und (Aus-)Bildung in der Zwischenkriegszeit publiziert worden sind. Außerdem liegen bereits vielfältige akademische Arbeiten zur religiösen Landschaft in den späten 1930er- und 1940er-Jahren vor. Die Jahre 1918 bis 1938 sind bislang aber noch weithin terra incognita. Aus diesem Grund hat sich das Projekt die individuelle Konstruktion von religiöser Vielfalt als Forschungsgegenstand gewählt. Es setzt sich zum Ziel, zentrale Entwicklungslinien des Umgangs mit religiöser Pluralität an Wiener Schulen in historischer Perspektive zu untersuchen, um einerseits dieses Forschungsdesiderat zu füllen und andererseits damit auch den Debatten der Gegenwart neue Impulse gegeben werden.

Die Basis liefern dabei leitfadengestützte Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Sie wurden mit ehemaligen Wiener Schülerinnen und Schülern der Jahre 1918 bis zum „Anschluss“ im März 1938 geführt. In Form einer retrospektiven Analyse sollen auf dieser Datengrundlage möglichst viele Aspekte des Schulalltages in Bezug auf Religion und religiöse Diversität im Wien der Zwischenkriegszeit untersucht werden.

Besondere Bedeutung des Schulwesens ins Österreich

Das staatliche Schulwesen hat lange Tradition in Österreich und geht auf die Schulreform des Jahres 1774 unter Kaiserin Maria Theresia zurück. Im Zuge dieser Reform wurden beispielweise die öffentlichen Staatsschulen ins Leben gerufen oder eine sechsjährige Schulpflicht eingeführt. Im Jahr 1869 wurde diese Schulpflicht dann auf 8 Jahre angehoben und durch das Reichsvolksschulgesetz wurde das gesamte Pflichtschulwesen vereinheitlicht. Otto Glöckel, langjähriger Präsident des Wiener Stadtschulrates, leitete 1918 eine bis heute nachwirkende Schulreform ein, die allen Kindern, ohne Unterscheidung des Geschlechtes oder der sozialen Herkunft, eine optimale Bildung ermöglichen sollte. So wurden etwa 1927 die Hauptschule als Pflichtschule für alle zehn bis vierzehnjährigen Schüler und Schülerinnen eingeführt.

Religion spielte in diesem Zusammenhang eine doppelte Bedeutung. Zum einen wurden in diesen Jahren an Wiener Schulen unterschiedliche Formen des Religionsunterrichts eingeführt und wieder abgeschafft. Zum anderen spielten in der Zwischenkriegszeit die privaten Schulen eine ganz besondere Rolle, wobei diese Schulen zu großen Teilen – aber bei weitem nicht ausschließlich – in religiöser Trägerschaft waren.

Politisierung und Ausgrenzung

Die bislang vorliegenden Interviews deuten vor allem zwei Punkte an, welche in Bezug auf den Vergleich der 1920er- und 2020er-Jahre von Interesse sein können. Zum einen dokumentiert sich in den Interviews immer wieder eine erstaunliche Politisierung der öffentlichen Debatten in der Zwischenkriegszeit. Lehrerinnen und Lehrer (ebenso wie manche Schülerinnen und Schüler) wurden von den Interviewpartnern explizit als "Sozis", "Nazis" oder "Königstreue" angesprochen und scheinen auch entsprechend aufgetreten zu sein.

Zum anderen stehen die Reformen des Religionsunterrichts auch für eine anhaltende Bedeutung des Themas Religion an den Schulen. Vor allem in den 1930er-Jahren waren mit den Reformen auch Ausgrenzungsstrategien verbunden. Die Frage inwieweit beispielsweise jüdische Schülerinnen und Schüler an einem eigenen Religionsunterricht teilnehmen konnten wurde in vielen Interviews thematisiert. Dies scheint den Interviewpartnerinnen und -partnern durchaus wichtig zu sein. Auf der Ebene individueller Kontakte und Freundschaften schien Religionszugehörigkeit aber interessanterweise nur selten eine Rolle gespielt zu haben. Einzelne Interviews dokumentieren Freundschaften zwischen Schülerinnen und Schülern, die auf Grund ihrer weltanschaulichen Zugehörigkeit bitter verfeindet gewesen sein sollten – bis hin zu Freundschaften zwischen Schülerinnen und Schülern mit einem jüdischen und einem nationalsozialistischen Hintergrund. In den meisten Fällen wussten die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner aber auch einfach nichts über die weltanschauliche Verortung ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler.

Bitte um Mithilfe!

Bis dato wurden 46 Personen interviewt. Diese Personen beschrieben sich selbst als dem jüdischen, katholischen, evangelischen und altkatholischen Glauben zugehörig beziehungsweise als Menschen "ohne religiöses Bekenntnis". Um ein noch besseres Bild zeichnen zu können, fehlen bislang aber noch Interviewpartnerinnen und Interviewpartner muslimischen Glaubens.

Dieser Bias hat eine Reihe von Gründen: Einerseits lebten in der Zwischenkriegszeit nur vergleichsweise wenige Menschen muslimischen Glaubens in Wien. Andererseits besteht nur in den wenigsten Fällen eine institutionelle Kontinuität etwa bei Moscheen oder muslimischen Vereinen. Und schließlich dokumentieren unsere Probleme auch die Tatsache, dass die besondere Situation von Musliminnen und Muslimen in der Zwischenkriegszeit bislang kaum diskutiert worden ist.

Aus diesem Grund bitten wir um Hilfe und suchen Personen welche:

·       zwischen 1918 und 1938 in Wien gelebt haben und

·       die Schule in Wien besuchten und

·       muslimischen Glaubens sind

Sollten Sie sich angesprochen fühlen oder jemand kennen der bereit wäre uns als Interviewpartner oder Interviewpartnerin zur Verfügung zu stehen, würden wir Sie bitten, sich entweder bei HS-Prof. Dr. Karsten Lehmann  oder Alexandra Katzian, BA. MA. zu melden. Es können persönliche Interviews, SKYPE/Facetime Interviews oder telefonische Interviews geführt werden.

Am Ende des Forschungsprojekts wird angestrebt, eine Wanderausstellung zu erstellen, um so die Ergebnisse des Projektes auch einem breiten Publikum eröffnen zu können. Das geplante Datum der Ausstellungseröffnung ist im Frühjahr 2021. (Alexandra Katzian, Karsten Lehmann, 26.3.2020)

HS-Prof. Dr. Karsten Lehmann ist Religionswissenschaftler und Soziologe und arbeitet seit 2017 als Forschungsprofessor an der KPH Wien / Krems.
Alexandra Katzian, BA. MA. ist Religionswissenschaftlerin, promoviert an der Universität Salzburg und arbeitet seit 2019 als Forschungsassistentin an der KPH Wien / Krems.

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